Wir leben in einer Demokratie wie der Fisch im Wasser. Wie selbstverständlich darf jeder seine Meinung sagen, sich informieren, sich mit anderen versammeln und an politischen Wahlen teilnehmen. Die meisten haben noch kein anderes politisches System erlebt. Darum ist es wichtig, an die Voraussetzungen zu erinnern, die jeder mitbringen sollte, damit wir auch weiterhin so frei und offen leben können.
Toleranz ist eine wichtige Fähigkeit oder noch genauer die Ambiguitätstoleranz. Damit gemeint ist die Fähigkeit, Mehrdeutigkeit und Vielfalt aushalten zu können. Dazu fällt mir das Bild eines breiten Spagats ein: den auszuhalten ist nicht leicht. In unserer Gesellschaft tun sich viele schwer mit Vielfalt, auch mit der, die durch Menschen entsteht, die aus anderen Ländern und Kulturen zu uns gekommen sind. Manche erleben sie als Bereicherung, andere wieder haben Angst und fürchten, etwas von dem zu verlieren, was ihnen Heimat, Sicherheit und Identität vermittelt.
Auch im kirchlichen Bereich kann man den Eindruck gewinnen, dass dort Ambiguitätstoleranz kleingeschrieben wird, wo man auf der reinen Lehre beharren will, und damit Intoleranz zeigt gegenüber allem, was davon abweicht. Die Wahrheit steht scheinbar über der Toleranz. Hinter diesem Beharren in Kirche, Politik und Gesellschaft vermute ich massive Angst, die schnell zu Hass und Abgrenzung gegenüber Andersdenkenden führen kann. Dazu kommen wachsende Ungeduld und fehlendes Wissen – eine Entwicklung, die wir seit Jahren in den sozialen Medien und im politischen Alltag beobachten können. Aus Debatten werden nicht selten Pöbeleien. Dagegen ist die Fähigkeit gefragt, besonders unter Christen, andere Meinungen auszuhalten oder diese überhaupt zu verstehen.
Echte Toleranz kann man von der Streitkultur an der Pariser Universität lernen. Im Mittelalter hieß dort die wichtigste Regel: Keiner darf seinen eigenen Standpunkt verteidigen, bevor er nicht den Standpunkt des Gegners selbst vorgetragen hat. Und dies wenn möglich besser als der Gegner selbst.
Eine tolle, aber auch aufwendige Übung. Erst die Streitfrage, dann der Standpunkt des anderen und dann erst die eigene Meinung. Schon damals wusste man: Streit gehört zum Leben. Wohl auch wegen dieser Streitkultur strömten die Studenten damals nach Paris. Die ideale Schule auch für einen der größten Kirchenmänner und Theologen, Thomas von Aquin.
Von Toleranz ist heute viel zu hören. Mir kommt es jedoch so vor, wie wenn viele damit nur Gleichgültigkeit meinen. Einander zuhören und andere Standpunkte verstehen sind wichtige Voraussetzungen für eine Kultur der Toleranz und für eine Demokratie.
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