Warum echte Partizipation für die Zukunft der Kirche unerlässlich ist
Jene Sozialform der katholischen Kirche, wie sie sich nach dem Konzil von Trient (1545-1563) gebildet hat, zerfließt in den Kontexten einer spätmodernen, auf radikale Religionsfreiheit umstellenden Gesellschaft. Man kann davon ausgehen, dass die Zukunft der katholischen Kirche in unseren Breiten nicht zuerst von der Verfügbarkeit diverser Ressourcen, auch nicht von ihrer konkreten Organisationsform vor Ort, sondern von der Überwindung einiger bislang typisch katholischer Asymmetrien abhängt: jener von Priestern und Laien, die katholisch herkömmlich in Über- und Unterordnungskategorien formatiert ist, jener von gelegentlichen Kirchennutzern zu regelmäßigen Kirchgängern, die klassisch als Kontrast zwischen „drinnen“ und „draußen“ gefasst wird, jener von Männern und Frauen, die in der katholischen Kirche nach wie vor mit der Konzeption „gleiche Würde“ bei „ungleichen Rechten“ definiert wird, und schließlich jener von Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen, die gewöhnlich auf der Achse Kompetenz – Unterstützung formatiert wird.
Die Hauptverantwortung für die neue Gestaltung dieser Kontraste liegt bei den jeweils Gestaltungsmächtigeren, also den jeweils Erstgenannten: den Priestern, den Hauptamtlichen, bei jenen, die sich im institutionellen „Innen“ der Kirche engagieren, und bei den Männern. Denn diese Asymmetrien rufen nach partizipativer Auflösung seitens der bisher Dominierenden und Definierenden. Denn die andere, die bisher unterlegene Seite kann sich heute der Definitionshoheit der stärkeren Seite entziehen – und tut es auch. Partizipation bedeutet damit für die bisher Dominierenden die (letzte) Chance, den Kontakt mit den bislang von ihnen Dominierten, also den Laien, den Ehrenamtlichen, dem „Außen“ und den Frauen, aufrecht zu erhalten. Partizipation wird damit zur Überlebensfrage.
Es wird alles darauf ankommen, ob die genannten Differenzen im Sinn des pastoralen kirchlichen Auftrags kreativ gestaltet werden können oder nicht. Dabei wird es nicht entscheidend sein, was sich die Beteiligten selber dabei denken, sondern vielmehr, welche Erfahrungen andere mit ihnen machen. Denn von der Wahrheit dieser Erfahrungen kann sich niemand mehr in der Kirche auf Dauer durch Schutzmechanismen abkoppeln oder sogar entziehen.
Das Beispiel „Ehrenamt“
Allein schon, Mitchristen zum Beispiel als „Ehrenamtliche“ zu adressieren, signalisiert eine spezifische Wahrnehmungsperspektive seitens jener Institution, der sie angehören und die sie auch selber verkörpern: der Kirche. Die „Ehrenamtlichen“ in der Kirche sind nämlich nicht zuerst „Ehrenamtliche“, sie sind vielmehr von Gott berufene Mitglieder des Volkes Gottes, sie sind „des priesterlichen, prophetischen und königlichen Amtes auf ihre Weise teilhaftig“
(Lumen Gentium, Nr. 31).
Soziologische Kategorien ohne theologische Kriterien sind stets verführerisch. Denn sie werden nur zu schnell zu Projektionsflächen eigener Interessen und Sehnsüchte. „Ehrenamt“ ist eine soziologische Kategorie. Ohne theologische Kontextualisierung wird sie leicht zum Vehikel vor sich selbst verschleierter Interessen. Man kann mit Ehrenamtlichen in der Kirche nur dann noch zukunftsweisend umgehen, wenn man sie nicht primär als „Ehrenamtliche“ adressiert, wahrnimmt und behandelt, vielmehr als Mitchristen, die unter Umständen bereit sind, unentlohnt und im öffentlichen Rahmen zu tun, wofür es Kirche gibt: das Evangelium und unsere heutige Existenz kreativ ins Spiel zu bringen, in Wort und Tat, hier und heute, im Kleinen und im Großen, zum Segen für andere und für sich selbst.
Die Kirche braucht alle, die zu ihr gehören. Sie muss sie hören und respektieren. Sie muss ihnen Raum geben und Aufmerksamkeit schenken. Sie braucht sie um ihres Lebens willen, das sie verkörpern, um ihres Glaubens willen, für den sie stehen, und um ihrer Liebe willen, zu der sie fähig sind. Sie braucht sie, um zu entdecken, wo sie ist und was ihre Aufgabe als Kirche hier und heute ist. Sie braucht sie, um zu werden, was sie sein soll: Gottes messianisches Volk im Hier und Heute.
Das gilt, ob sie der Gemeinde nahe oder ihr fern stehen, ob sie bereit sind, sich in ihr zu engagieren, oder „treue passive Mitglieder“ bleiben. Man braucht sie zur Definition und Bewältigung der pastoralen Aufgabe selbst. Denn ohne sie weiß die Kirche nicht genug von konkreter Existenz heute und also auch nichts von dem, was sich ergibt, wenn man diese Existenz mit der Botschaft des Evangeliums in Kontakt bringt.
Kein Zugeständnis, eine pastorale Notwendigkeit
Die Frage ist, ob die katholische Kirche genug Orte und Formen hat, wo man das in seinen atemberaubenden Konsequenzen realisiert. Gibt es innerkirchlich genug Orte wirklich ehrlicher Kommunikation? Ohne ehrliche Kommunikation können die notwendigen Orte der gemeinsamen Entdeckung des Glaubens in seiner konkreten Existenzbedeutsamkeit heute gar nicht erst entstehen.
Die Chance wäre, im anderen jemanden zu sehen, mit dem man zusammen neu lernen kann, was das Evangelium hier und heute in den ziemlich neuen und unübersichtlichen Zeiten und Biografien der Gegenwart bedeutet. Dazu braucht es Aufmerksamkeit, Demut und Phantasie, Relativierung des Eigenen, Neugier auf das Fremde, Vertrauen in den Reichtum des Volkes Gottes und übrigens auch in die Entdeckungskraft und Realitätshaltigkeit des eigenen Glaubens.
Es braucht den Mut zu neuen Orten und neuen Räumen und zur Selbstrelativierung. Mit anderen Worten: „Partizipation“ ist mehr als einfach nur gnädig gewährte Teilhabe: Sie ist „Volk-Gottes-Aufmerksamkeit“, sie ist die Chance, überhaupt zu erfahren, was es denn mit dieser Zeit und mit Gott in ihr auf sich hat. Die Zeit aber ist vielfältig, bunt und unübersichtlich und was Gottes Heilszusage in ihr konkret bedeutet, das müssen wir immer erst neu suchen und entdecken, erfahren und erleben.
Es geht also um mehr, es geht um die Partizipation an der Geschichte, an den „Zeichen der Zeit“, sonst gleiten Partizipationsforderungen leicht in konservative („Wie bleiben wir, wie wir sind, aber jetzt mit Hilfe der Laien?“) oder progressiv-romantische Utopien (Kirche als quasi-familiäre Gemeinschaft) ab, die ins Nirgendwo laufen. Jenseits jener institutionellen Partizipationsverfahren, wie sie in ausdifferenzierten spätmodernen Gesellschaften den Steuerungsnotwendigkeiten komplexer Institutionen eigentlich selbstverständlich sind, wäre kirchliche Partizipation als „Sich-Aussetzen“ der Gegenwart und ihren „Zeichen der Zeit“, als „Partizipation“ an den Freuden und Hoffnungen, an der Trauer und den Ängsten einer unüberschaubaren Gegenwart zu gestalten. Alle institutionellen Partizipationsregeln hätten dazu zu dienen, diese „Exposure-Partizipation“ zu ermöglichen, denn nur mit ihr ist Pastoral in spätmodernen Zeiten noch möglich.
„Statt nur eine Kirche zu sein, die mit offenen Türen aufnimmt und empfängt, versuchen wir, eine Kirche zu sein, die neue Wege findet, die fähig ist, aus sich heraus und zu denen zu gehen, die nicht zu ihr kommen.“ So hat das Papst Franziskus formuliert. Das ist die existentielle Partizipation, um die es geht, und die, die wir für die Zukunft brauchen.
Fotos: Storm / Adobe Stock
Buchtipp:
Für die katholische Kirche in Deutschland kann es nicht weitergehen wie bisher. Die Kontextveränderungen kirchlichen Handelns sind dafür zu dramatisch. Sie berühren die unterschiedlichsten Ebenen: das Individuum und sein Verhältnis zu religiösen Praktiken, die religiöse Fundierung, Orientierung und Interpretation der unmittelbaren Nahbeziehungen des Einzelnen oder die verschiedenen kirchlichen Sozialformen. Auf all diesen Ebenen spielen sich vielfältige, teils gegenläufige Neugruppierungs-, aber auch inhaltliche Neukonzeptionsprozesse ab, die niemanden unverändert lassen, der im kirchlichen Feld agiert. Unser Autor Rainer Bucher beschäftigt sich seit eigenen Jahren intensiv mit diesen Fragen. In „An neuen Orten“ sind ausgewählte Beiträge Buchers rund um diese Thematik zusammengestellt. (pm)
Bucher, Rainer (2015), An neuen Orten. Studien zu den aktuellen Konstitutionsproblemen der deutschen und österreichischen katholischen Kirche.
536 Seiten, broschiert. Echter Verlag, 49,90 Euro.