Monsignore Matthias Türk war von 1999 bis 2019 Mitarbeiter im Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit der Christen im Vatikan. Nach zwanzig Jahren in Rom ist er nun zurück in seinem Heimatbistum Würzburg. In Gemeinde creativ zieht er eine Bilanz seiner vatikanischen Dienstjahre.
Gemeinde creativ: Monsignore Türk, als Sie vor 20 Jahren Ihren Dienst im Päpstlichen Einheitsrat angetreten haben, stand die Ökumene eher im Zeichen von Ermüdungserscheinungen. Wie haben Sie die Zeit erlebt?
Matthias Türk: Als äußerst spannendend! Es herrschte Aufbruchsstimmung. Es war eine Phase der Vorbereitung und der engagierten Auseinandersetzung hin auf die Unterzeichnung der gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre, die dann am 31. Oktober 1999 feierlich in Augsburg zwischen dem Lutherischen Weltbund (LWB) und unserem Einheitsrat erfolgte. Ich erinnere mich an die Höhen und Tiefen, die Anfragen auf evangelischer Seite, die Präzisierungen durch die Glaubenskongregation. Vieles brachte für die Beteiligten noch einmal eine gewisse Verunsicherung bis hin zu manchen Übersetzungsschwierigkeiten aus dem Italienischen ins Deutsche und umgekehrt. Alle Bemühungen mündeten schließlich in die Unterzeichnung des Konsensdokumentes, das bis heute wegweisend für den ökumenischen Fortschritt ist.
Die Unterzeichnung gilt ja als Sternstunde der Ökumene. Zu Recht?
Ja, und zwar bis heute. Es war ein Meilenstein, wie es Papst Johannes Paul II. damals zum Ausdruck brachte, und wie bis heute immer wieder zu Recht betont wird. Es ist bis heute das einzige ökumenische Dokument, das einen lehramtlichen Status in den beiden Kirchen erreicht hat.
Welche weiteren Höhepunkte haben Sie bei Ihrer Arbeit in Rom erlebt und begleitet?
Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre zwischen dem Lutherischen Weltbund und der Katholischen Kirche war für mich ein Höhepunkt, mit dem ich zu Beginn meiner römischen Tätigkeit gleichsam beschenkt wurde. Und sie war ein Startpunkt für den weiteren Weg. Aber wie es bei echten Höhepunkten ist: Sie können nicht sofort wiederholt werden. Es folgt ein Weg durch das Tal der Aufarbeitung und Alltagsarbeit, bis man eine weitere Spitze erreicht.
Wir konnten unseren Weg auf der erreichten Höhe fortsetzen, indem es möglich wurde, den katholisch-lutherischen Konsens auf andere ökumenische Partner auszudehnen. Schon 2001 hatten wir in den USA dazu die Gelegenheit mit einer Konsultation zwischen Katholiken und Lutheranern sowie dem Reformierten Weltbund und dem Weltrat der Methodisten. In der Folge unterzeichnete der Weltrat der Methodisten die Erklärung im Jahr 2006 auf seiner Weltversammlung in Seoul; die Reformierten folgten im Jahr 2017. Daran schlossen sich im selben Jahr 2017 auch die Anglikaner mit einer zustimmenden Stellungnahme zur Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre an. In weniger als 20 Jahren nach Augsburg haben sich mit diesen fünf Unterzeichnern alle großen ökumenischen Partner im Westen der Erklärung angeschlossen. Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre zwischen dem Lutherischen Weltbund und der Katholischen Kirche und nunmehr auch des Methodistischen Weltbundes, der Weltgemeinschaft der Reformierten Kirche und der Anglikanischen Gemeinschaft war und ist ein Höhepunkt, die sich als Höhenwanderung fortgesetzt hat. Die fünf Unterzeichnungspartner haben sich bereits 2019 erneut, 20 Jahre nach der ersten Unterzeichnung 1999 in Augsburg, zu einem Symposium an der Universität Notre Dame in den USA zu weiteren Beratungen im Blick auf die zukünftige ökumenische Zusammenarbeit getroffen.

Auch für Papst Franziskus ist die Ökumene ein wichtiges Thema. Beim ökumenischen Treffen mit Oberhäuptern orientalischer und orthodoxer Kirchen in Bari lässt er am 7. Juli 2018 eine weiße Taube fliegen. Neben ihm stehen Bartholomaios I. (links), griechisch-orthodoxer Patriarch von Konstantinopel und Ehrenoberhaupt der Weltorthodoxie und Tawadros II. (rechts), koptisch-orthodoxer Papst-Patriarch.
Welche Rolle spielte dann das Reformationsgedenken 2017?
Das gemeinsame ökumenische Gedenken der Reformation 2017 war ein weiterer Höhepunkt. Anstelle eines polemischen, konfessionellen Jubelfestes der Kirchentrennung kamen wir zu einem Jubeljahr für die wiedergefundene Einheit, für die Ökumene, zusammen. Dazu hatte unser Päpstlicher Rat schon 2013 mit dem LWB in Genf ein gemeinsames Dokument unter dem Titel vorgestellt: „Vom Konflikt zur Gemeinschaft“. Der „Lund-Event“ am 31. Oktober 2016, die ökumenische Liturgie, die Papst Franziskus zum Auftakt des Gedenkjahres 2017 gemeinsam mit der Spitze des LWB und allen ökumenischen Partnern weltweit im schwedischen Lund feierte, war erneut eine Sternstunde, die bis heute in lebendiger Erinnerung bleibt und sprichwörtlich geworden ist.
In dem Text konnten die inhaltlichen Anliegen des 16. Jahrhunderts für eine Erneuerung der Kirche in ihrer Bedeutung für die Gesamtkirche aufgezeigt werden. Es wurde deutlich, dass die religiösen Anliegen aus der Reformationszeit einen wichtigen Beitrag für die Erneuerung der ganzen Kirche darstellen. Es bedeutete gleichsam ein Aufgreifen der Reformanliegen des 16. Jahrhunderts. Ja man kann sagen: die positiven Anliegen Martin Luthers sind katholischerseits bereits mit dem Konzil von Trient bis hin zum Zweiten Vatikanischen Konzil eingelöst worden, d. h. seine berechtigten, dem Evangelium und der kirchlichen Lehre entsprechenden Reformanliegen. Die damalige Kirchentrennung wäre in dieser Hinsicht im 21. Jahrhundert weggefallen.
Aber Sie waren ja nicht nur für den Kontakt zu den Lutheranern zuständig…
In der Tat haben wir auch zwei Konsensdokumente mit den Altkatholiken erstellt: „Kirche und Kirchengemeinschaft“ (2009) und in der Folge in einer erweiterten zweiten Auflage 2018. Darin sind alle kirchentrennenden Punkte aufgezählt, samt eines weiterführenden Ausblicks. Das war nötig, um den Stand der Beziehungen klarzulegen. Ebenfalls aus dem Jahr 2018 möchte ich die Unterzeichnung einer Absichtserklärung für einen offiziellen Dialog mit der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen Europas (GEKE) erwähnen. Ihr gehören nahezu alle evangelischen Kirchen unseres europäischen Kontinents an. In den fünf Jahren zuvor hatten wir mit der GEKE ein sorgfältig erarbeitetes Dokument erstellt – mit einem ähnlichen Titel: „Bericht über ‚Kirche und Kirchengemeinschaft‘“, das überraschenderweise viele Übereinstimmungen in den Bereichen Kirche, sakramentales Leben und Amt enthält, weit mehr als es bisher den Anschein hatte.
Das zeigt, wie auf unterschiedlichen ökumenischen Baustellen letztlich ein vergleichbares Fundament zum Vorschein kommt, dass dort die inhaltliche Orientierung jeweils ähnlich ist und dass die Themen miteinander verbunden sind. Und es zeigt vor allem, dass sie in die gleiche Richtung gehen: auf die Bereiche Kirche, Sakramente und Amt hin. Das ist, wie ich in meiner Zeit hier erlebt habe, die Richtung, in die zur Zeit sehr viele ökumenische Strömungen einmünden.
Neben diesen Höhepunkten, was waren die Tiefpunkte in diesen Jahren?
In der Ökumene hängt vieles von konkreten Personen ab, die ein Bemühen befördern und zu einem konstruktiven, gelungenen Ende bringen. Und vieles scheitert ebenso an Personen, die genau das Gegenteil tun. Wenn es Tiefpunkte gab, waren es immer – ich will niemandem zu nahe treten – Personen, die etwas nicht verstanden haben, die dagegen gearbeitet haben oder von anderen Interessen geleitet waren. Konkrete Tiefpunkte waren alle polemischen Äußerungen, die gegen die inhaltlichen Fortschritte gemacht worden sind. Deshalb besteht die Arbeit des Rates auch nicht nur im Dialog mit ökumenischen Partnern. Wir müssen auch innerhalb unserer eigenen Kirchen und Gemeinschaften um Verständnis für Ökumene werben.
Was war genau Ihr Zuständigkeitsbereich?
Die Arbeit im Rat für die Einheit der Christen ist geographisch und inhaltlich aufgeteilt. Geographisch war ich für die Länder mit einem großen Bevölkerungsanteil von Lutheranern und Altkatholiken zuständig, also für Mittel- und Nordeuropa, aber auch in vielen anderen Kontinenten. Inhaltlich habe ich mich um die Beziehungen zum Lutherischen Weltbund, zur Altkatholischen Bischofskonferenz der Utrechter Union, und auch zur Gemeinschaft evangelischer Kirchen Europas GEKE gekümmert.
Wie viele Dialog-Projekte haben Sie begleitet?
Der Vatikan hat derzeit die fünfte Phase seiner Gespräche mit dem LWB abgeschlossen. 2006 haben wir (noch in der vierten Phase) ein Dokument „Die Apostolizität der Kirche“ fertiggestellt, 2013 folgte dann der genannte Text „Vom Konflikt zur Gemeinschaft“. 2019 wurde noch ein Text mit dem Titel „Taufe und wachsende Kirchengemeinschaft“ verabschiedet. In diesen Dialogkommissionen war ich jeweils der Ko-Sekretär der katholischen Seite.
Dabei musste ich mich, angefangen von der Logistik der Dialogtreffen und ihrer Organisation, bis zur inhaltlichen Mitarbeit an den Texten kümmern. Dazu gehörte auch die Vorbereitung und Begleitung von offiziellen Delegationen zu Papstaudienzen. Weiter die Teilnahme an ökumenisch-theologischen Symposien auf Universitätsebene in Rom. Dazu kamen eine rege Vortragstätigkeit und Fachbeiträge in meinem Bereich. Seit 2001 hatte ich zudem einen Lehrauftrag an der Gregoriana-Universität für ökumenische Theologie.
Sie haben die Ökumene in drei Pontifikaten erlebt und begleitet. Welche Unterschiede gab es?
Die Pontifikate haben, was die Ökumene betrifft, in klarer Weise aufeinander aufgebaut und voneinander profitiert. Die Päpste, ihre Lehre und ihr sichtbarer Einsatz für die Ökumene haben sich gegenseitig befruchtet und unterstützt. Johannes Paul II. hat auf seine unverkennbare Weise die Öffnung zur Welt vorangebracht. In vielen Ländern haben seine Besuche einen ökumenischen Aufbruch ausgelöst. Etwa hat mit seiner großen Reise in die skandinavischen Länder erstmals ein breiteres ökumenisches Bewusstsein eingesetzt. Katholiken und Protestanten begannen dort in einen engeren Kontakt untereinander zu treten.
Ebenso in Italien – gerade auch durch die Erklärung zur Rechtfertigungslehre – ist ein Bewusstsein für evangelisches Leben entstanden und gewachsen. Ökumene wurde zu einem Thema. Aber ich denke auch an Deutschland. Dort gab die erste Papstreise 1980 den Anstoß zur ersten bilateralen Kommission von Bischofskonferenz und VELKD.
Und der Beitrag der folgenden Päpste?
Benedikt XVI. hat dem ökumenischen Dialog durch eine theologische Vertiefung und Präzisierung entscheidend weitergeholfen. Und Franziskus setzt das erneut um. Ganz besonders auf der caritativen Ebene, mit dem gemeinsamen Einsatz für Arme und Benachteiligte in der Welt. Er spricht von einer Weggemeinschaft, die wir nicht mehr verlassen dürfen, weil wir Schwestern und Brüder geworden sind. Aber Franziskus unterstreicht ebenso die Bedeutung des theologischen Dialogs. Oft wird ihm unterstellt, dieser Dialog sei für ihn nicht von Bedeutung. Das Gegenteil ist der Fall, wie zum Beispiel alle seine Audienzansprachen an ökumenische Gäste zeigen.

Evangelischer Religionsunterricht in einem Berufskolleg in Bonn. Unterrichtsthema sind die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Konfessionen. Auf der Tafel stehen Begriffe wie Gott, Glaube, Glaubensbekenntnis.
An welchem Punkt ist der ökumenische Dialog heute – was Ihren Zuständigkeitsbereich betrifft?
Wir stehen vor einer Konzentration der bisherigen Dialogergebnisse auf die drei Themen Kirche, Eucharistie und Amt, die die Grundlage für die volle sichtbare Einheit der Kirche bilden. Sie sind – bewusst oder auch unbewusst – aus dem Verlauf der durchaus unterschiedlichen Dialoge hervorgegangen. Ich kann darin nichts anderes als ein Wirken des Heiligen Geistes erkennen. Es ist eine Erfolgsgeschichte.
Titelbild: POW
Fotos: KNA Bild