Die großen Seefahrer und Entdecker der Neuzeit brauchten einen Kompass, verlässliche Seekarten und mussten die Sterne lesen können, um durch die Welt zu navigieren. Um sicher durch die Gegenwart zu gelangen, braucht es auch heute einen Kompass, der sieht aber anders aus als zu Kolumbus‘ Zeiten: ethische Grundwerte dienen der Positionsbestimmung in einer digitalen Welt.
Ein Computer, der sich verselbstständigt, sich gegen seine Erbauer wendet, sich der Abschaltung verweigert und eigenständige Angriffe lanciert, genannt M 5. Als im Jahr 1968 die 53. Folge vom Raumschiff Enterprise ausgestrahlt wird, da halten die Zuschauer das für eine Zukunftsvision, die so nie eintreffen wird. Eine Idee aus einer Science-Fiction-Serie, genauso wie das Beamen oder der Warp-Antrieb. M 5 ist ein großer, grauer, klobiger Kasten, rote und grüne Balken blitzen über den Bildschirm. Captain Kirk und seine Mannschaft haben alle Hände voll zu tun, um den wildgewordenen Computer zu stoppen. Heute würde eine solche Handlung anders bewertet. Was früher Science-Fiction war, ist heute Realität: unbemannte Kampfdrohnen, selbstlernende Computer, Pflegeroboter und vieles mehr. Und doch steht das Nachdenken über die Existenz im Spannungsfeld zwischen Mensch und Maschine erst am Anfang.
In all den Diskussionen um Digitalisierung begegnet man immer wieder der Angst, solche endzeitlichen Szenarien, in denen Waffen autonom agieren, Computer die Gewalt über Atomkraftwerke übernehmen oder Roboter gegen die Menschheit aufbegehren, könnten irgendwann doch nicht nur mehr Inhalte von Kino-Blockbustern sein. Dem zugrunde liegt immer dieselbe Frage: Wer entscheidet? Überlassen wir künftig immer mehr Entscheidungen Algorithmen und damit Künstlichen Intelligenzen oder sind wir Menschen es, die die Zügel fest in der Hand behalten? Der selbst nachbestellende Kühlschrank mag ungefährlich erscheinen, beim autonomen Fahren sieht die Debatte schon anders aus: Wie entscheidet das selbstfahrende Auto, wen schützt es in Konfliktsituationen, stets den Insassen oder andere Verkehrsteilnehmer? Und wer übernimmt im Fall eines Unfalls die Verantwortung? Der Fahrer? Der Hersteller? Der Programmierer?
Analoge Werte
Die Welt verändert sich mit rasender Geschwindigkeit, so schnell, dass einem im Strudel der Ereignisse und technischen Fortschritte manchmal schwindelig werden kann. Der Philosoph und ehemalige Professor für Informationswissenschaft in Stuttgart, Rafael Capurro, spricht von einer „neuen anthropologischen und kulturellen globalen Revolution“, welche die Sicht auf Freiheit und Autonomie – die in der Neuzeit stark von staatlicher und kirchlicher Abhängigkeit bestimmt war – verändert. Diese Veränderungen sollten jedoch keine Angst machen. Jede Zeit hatte ihre Herausforderungen. Eine der wichtigsten der Gegenwart ist es nun, nicht nur nach technischen Lösungen auf Probleme zu suchen, sondern nach ethischen Antworten. Die Grundwerte unserer Gesellschaft, darunter so bedeutende wie Freiheit, Menschenwürde, Gerechtigkeit, Solidarität und Sicherheit, kommen zweifelsfrei aus einer analogen Welt, sind selbst „analog“. Die Frage muss erlaubt sein: Haben diese analogen Werte einen Platz in der digitalen Welt? Die Antwortet lautet: Heute vielleicht mehr als je zuvor.
Ethik stellt keine Freibriefe aus.
Rafael Capurro, Philosoph
Ethik ist eine Hilfestellung, sagt Rafael Capurro. Sie nimmt niemandem die Verantwortung dafür ab, welche Richtung er einschlägt. Ethik stellt keine Freibriefe aus. „Wenn unsere Annahmen und Festlegungen bezüglich eines guten Lebens aufgrund technischer oder sozialer Veränderungen problematisch werden, dann ist es Zeit für eine ethische Reflexion, die dem Einzelnen, der Gesellschaft und dem Gesetzgeber zu denken geben sollte“, sagt Capurro. Grundlage dafür sei eine fundierte, ethische Forschung. Außerdem brauche es dringend globale Regeln des Fair Play für die digitale Welt sowie nationale und internationale Einrichtungen, die für deren Einrichtung sorgen.
Keine zwei Welten
Noch immer wird versucht, die analoge Welt von der digitalen Welt zu trennen. Das ist längst nicht mehr möglich. Die digitale Weltvernetzung prägt das „richtige Leben“ in immer größerem Ausmaß. In diesem Zusammenhang stellen sich Fragen, die längst beantwortet schienen, neu: Wie verhalten sich Autonomie und Fremdbestimmung zueinander? Was ist öffentlich, was privat? Welche Auswirkungen hat unser Leben in digitalen Prozessen auf Gesellschaft, Demokratie und die Umwelt?
Diese Diskussionen müssen gesamtgesellschaftlich geführt werden, weil die digitale Transformation alle Lebensbereiche und alle Menschen betrifft. Rafael Capurro macht deutlich: „Ethische Fragen sind immer Lebensfragen“. Bevor man jedoch die moralische Messlatte anlegt, muss man genau begreifen, muss man genau verstehen, was hinter den Prozessen steckt, wo die Fallstricke liegen und in welchen Bereichen sie sich am stärksten auswirken. „Die ethische Abwägung, ob eine Technologie wie die Robotik die individuelle und soziale Freiheit belastet oder entlastet, ist alles andere als trivial. Wir müssen tief denken“, sagt Rafael Capurro.
Gerade im Bereich der Robotik, aber auch beim Autonomen Fahren, wird immer wieder diskutiert, ob ethisch-korrekte Handlungsweisen einprogrammiert werden können. Kant hat Autonomie im Sinn von Freiheit als Kern der Menschenwürde definiert. Ethik im Sinn einer „kritischen Moral lässt sich naturgemäß nicht programmieren“, meint Rafael Capurro. Festgelegte moralische Regeln und Gesetze ließen sich lediglich „algorithmisieren“. Dies stelle einen jedoch vor die Aufgabe, zu interpretieren. Ein selbstfahrendes Auto könne diese Interpretationsleistung nicht erbringen. Nicht die Maschinen, sondern ihre Hersteller, Programmierer und Käufer stehen also vor einem „moralischen wie rechtlichen Dilemma, das nur schwer lösbar sein wird.“
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Die 10 Gebote der Digitalen Ethik
Das Leben in einer digitalen Welt bringt Freiheiten, aber auch Verantwortung mit sich. Wie können wir im Web gut miteinander leben? – In Zeiten von Shitstorms, Hatespeech und Fake News stellen sich viele diese Frage. Masterstudierende am Institut für digitale Ethik an der Hochschule der Medien in Stuttgart haben unter der Leitung von Petra Grimm und Wolfgang Schuster nach Antworten gesucht und die „10 Gebote der digitalen Ethik“ aufgestellt. „Wie wir uns verhalten und mit Konflikten umgehen, ist Ausdruck unserer ethischen Haltung. Es ist an der Zeit, sich darüber zu verständigen, wie ein gutes, gelingendes Leben in der digitalen Gesellschaft aussehen soll“, schreiben die Initiatoren auf der zugehörigen Aktionspostkarte. Die zehn Gebote verstehen sich als Leitlinien, die helfen sollen, die Würde des Einzelnen, seine Selbstbestimmung und Handlungsfreiheit wertzuschätzen:
- Erzähle und zeige möglichst wenig von Dir.
- Akzeptiere nicht, dass Du beobachtet wirst und Deine Daten gesammelt werden.
- Glaube nicht alles, was Du online siehst und informiere Dich aus verschiedenen Quellen.
- Lasse nicht zu, dass jemand verletzt und gemobbt wird.
- Respektiere die Würde anderer Menschen und bedenke, dass auch im Web Regeln gelten.
- Vertraue nicht jedem, mit dem Du online Kontakt hast.
- Schütze Dich und andere vor drastischen Inhalten.
- Messe Deinen Wert nicht an Likes und Posts.
- Bewerte Dich und Deinen Körper nicht anhand von Zahlen und Statistiken.
- Schalte hin und wieder ab und gönne dir auch mal eine Auszeit.
Ein ausführliches Booklet zu den „10 Geboten der digitalen Ethik“ sowie weitere Informationen finden Sie auf der Homepage des Instituts für digitale Ethik www.digitale-ethik.de.
Bildnachweis: Institut für Digitale Ethik