„Erst in der Hinwendung zum Du gewinnt das Ich seinen Bestand“ – so lautet ein bekanntes Zitat des Philosophen und Schriftstellers Martin Buber. So kurz und einfach dieser Satz klingt, so tief und vielschichtig ist seine Bedeutung für das Wesen der Inklusion. Denn Inklusion lebt von der Zuwendung zum Gegenüber, geprägt vom Respekt und der unveräußerlichen Würde.
Ich nehme den Menschen mir gegenüber wahr, nehme Kontakt zu der Person auf und im Sinn einer gelingenden Kommunikation sende ich ihr oder ihm zuerst einmal ein Signal der Wertschätzung. Kern einer wirklichen Teilhabe ist eben eine wirkliche, vielleicht darf man sogar sagen, wahrhafte Kommunikation. Voraussetzung für diesen Schlüssel zur Teilhabe ist die entsprechende Haltung, die Respekt und Zuwendung in sich vereint. Drei Elemente sind bestimmend für diese inklusive Haltung:
Augenhöhe:
Wir Menschen mit Behinderung, unabhängig von Art und Schwere der Beeinträchtigung, haben den Anspruch darauf, wie alle Menschen, auf Augenhöhe respektiert und wahrgenommen zu werden. Unabhängig von der Beeinträchtigung sind wir nicht vor allem Gegenstand der Fürsorge oder dem dauerhaften Anwenden von pädagogischem, therapeutischem oder sonstigem, auch vermeintlichem Expertenwissen zu überlassen. Wir alle sind gleichberechtigte Partner, wie alle anderen Menschen auch. Hier gilt es insbesondere den Gedanken der Fürsorge und Barmherzigkeit sehr kritisch zu hinterfragen. Natürlich ist Barmherzigkeit in ihrem Kern eine Herstellung von Würde des Gegenübers. Gerade aber in der traditionellen Behindertenhilfe ist dieser Kern von einer sehr engen Vorstellung von Fürsorge bestimmt gewesen. Menschen mit Behinderung waren zu oft nur ein Gegenstand der Fürsorge, mussten sich den Fachkräften unterordnen. Geprägt war diese Herangehensweise von der Vorstellung, dass diese Menschen nicht wissen können, was gut für sie ist. Zusätzlich kam dazu noch ein aus heutiger Sicht falsch verstandenes Mitleid.
- Erstens besteht auch für Menschen mit schweren Beeinträchtigungen das Grundrecht auf Zugehörigkeit zur Gesellschaft im Ganzen. Darüber hinaus ist das Konzept der Menschenwürde aus Artikel 1 des Grundgesetzes mit der Objektformel des Bundesverfassungsgerichts verknüpft: Jeder hat den Anspruch, stets als Subjekt und nie bloß als Objekt anderer behandelt zu werden.
- Zweitens beruht das Teilhaberecht auf der möglichen Autonomie dieser Menschen. Es ändert sich nicht, wenn Atmung, Mobilität oder Kommunikation erschwert sind. Die Vorstellung genügt, dass diese Fähigkeiten im Prinzip möglich sind oder möglich sein werden. Auch wenn nicht alle Menschen die ihnen zuerkannte Autonomie in gleicher Weise ausüben können, ist die Achtung ihrer Autonomie davon unabhängig. So gesehen besteht auch für Menschen mit schweren Behinderungen das von der UN-Behindertenrechtskonvention betonte und geforderte Recht auf Teilhabe und Mitwirkung an der sozialen Gemeinschaft.
- Drittens ist die gesellschaftliche Achtung von Menschen mit Assistenzbedarf auch in asymmetrischen Beziehungen eine Grundlage menschlichen Zusammenlebens. Sie entspricht einer Ethik der Achtsamkeit, die engagierte Zuwendung und Anteilnahme als praktizierte Teilhabe versteht.
- Nicht zuletzt stimmt das Menschenrecht auf Teilhabe mit der Grundannahme menschlicher Freiheit, einer Ethik mit umfassender Geltung und der Goldenen Regel überein: „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst.“
Verständnis:
Natürlich kann man sich niemals ganz in die Lebenslage eines anderen Menschen versetzen. Bestimmte Perspektiven, die mit der Beeinträchtigung und der Behinderung zusammenhängen, müssen aber wirklich ernst genommen und so gut wie möglich nachvollzogen werden.
Dazu ein Beispiel aus meiner persönlichen Erfahrung: Ich bin häufig auf Reisen und immer wieder passiert es mir in Hotels, dass man sich sehr um mich bemüht. Da die Mitarbeiter erkennen, dass ich mich mit dem weißen Langstock bewege, meinen sie es besonders gut. Ich bekomme das rollstuhlgerechte Zimmer oder werde zur Behindertentoilette gelotst. Wie gesagt, es ist sicherlich gut gemeint. Aber gerade das rollstuhlgerechte Zimmer oder die Behindertentoilette sind für mich erst recht eine Herausforderung. Stichworte sind niedrige Türklinken und Lichtschalter, Einrichtungen sind gerade nicht an dem Platz, an dem ich sie standardmäßig erwarte. Was könnte man daran verbessern? Auf jeden Fall schadet es nicht, vorher den Menschen zu fragen, ob und welche Unterstützung er tatsächlich braucht!

Foto: Adobe Stock / Africa Studio
Bei Menschen mit einer Körperbehinderung oder mit einer Sinnesbehinderung, die sich gut verständigen können, ist dies ohne Schwierigkeiten möglich. Die Perspektive der Menschen mit Lernschwierigkeiten, insbesondere wie sie ihre Umwelt erleben, ist Grundlage für ein wirkliches Verständnis ihrer Lebensbedingungen. Hier müssen wir noch sehr viel lernen. Im Sinn dieses Perspektivwechsels müssen auch kritisch die bisherigen Angebote für diese Menschen auf ihre Qualitäten hin überprüft werden. Diese Nutzerorientierung bei der Ergebnisqualität wird in der nächsten Zeit sehr wichtig. Hier gilt es, insbesondere reiche Erfahrungen aus Österreich zu nutzen und auch in Bayern Modellprojekte zu starten.
Einbeziehung:
Es geht darum, Menschen mit Behinderung ernsthaft in Entscheidungs- und Handlungsprozesse mit einzubeziehen, auch oder gerade, wenn die Kommunikation erschwert ist. Die Erstellung von Aktionsplänen gemeinsam mit den Menschen mit Behinderung oder die gemeinsame Festlegung von Prioritäten ist aus meiner Sicht der Kern dieses Aspekts der inklusiven Haltung. Gerade dort, wo sich Einrichtungen verändern, kommt es darauf an, dass die betroffenen Menschen selbst von Anfang an mitentscheiden, wie beispielsweise ambulante Wohnangebote gestaltet werden, wie und in welcher Form man sich die Betreuung wünscht. Da geht es beispielsweise bei jüngeren Menschen mit einem entsprechenden Pflegebedarf darum, dass am Wochenende die Pflegezeiten so angepasst sind, dass man wie andere auch, ausgehen, ins Kino oder in die Disco gehen und bei anderen Unternehmungen mit dabei sein kann.
Im Zentrum jeden Handelns steht der selbstbestimmte Mensch. Hier möchte ich noch einmal anknüpfen. Unterstützerkreise sind die Konkretisierung einer Barmherzigkeit, die den Menschen zur Freiheit, Selbstbestimmung und echter Würde zu verhelfen. Es geht um Respekt und Zuwendung, die jeden Tag, ganz praktisch verwirklicht werden muss. Diese Perspektive ist für uns, gerade in festgelegten Institutionen, wie Förderstätten oder Wohnheimen, ungewohnt und wirft in der Alltagspraxis komplizierte Fragen auf. Dies ist in Großbritannien, wo viele Angebote insgesamt nur auf persönlichem und ehrenamtlichem Engagement beruhen, eine völlig andere Ausgangslage. Trotzdem finde ich das Modell höchst interessant.
Best-Practice aus Großbritannien:
Dort gibt es Unterstützerkreise. Menschen mit Behinderung bestimmen selbst, von wem sie sich, meist ehrenamtlich, unterstützen lassen. Dieser Kreis trifft sich regelmäßig unter der Leitung des Menschen mit Behinderung und es wird gemeinsam besprochen, wie seine Wünsche und Lebensvorstellungen verwirklicht werden können. Insbesondere im Freizeitbereich können dann mögliche Assistenzleistungen auf viele Schultern verteilt werden.
Fotos: Adobe Stock / Africa Studio und Adobe Stock / CHREW18