Manchmal steht das Ziel im Weg
Neulich bin ich mit der Bahn von Nürnberg nach Passau gefahren, heim von der Redaktionskonferenz von Gemeinde creativ. Es war interessant. Ich erreiche den Bahnhof um 15 Uhr. Und erwische den 14.30-Uhr-Zug. Denn der hat 40 Minuten Verspätung. Ein Zug kommt spät, ich komme früher weg. Es läuft gut. Im Zug teilt der Schaffner „mit Bedauern“ mit: Wir haben 50 Minuten Verspätung. Er wird das noch oft sagen, das mit dem Bedauern und der Verspätung. Der Lokführer hole bis Regensburg Zeit rein, verspricht er frohgemut. In Regensburg sind’s acht Minuten – mehr Verspätung.
Die Heizer sollten mehr Kohle in den Kessel schmeißen, denke ich. Ist natürlich Unsinn. Der Zug fährt mit Strom. Seit neuestem mit Ökostrom, stand zu lesen. Welcher Strom auch immer, der fällt jetzt aus. Es ist dunkel. Zug steht. Der Lokführer fährt alle Systeme neu hoch. Licht wieder da. Fünf Minuten hat’s gekostet. Grüner Strom. Ob’s daran liegt?
Der Schaffner teilt jetzt Zettel aus. Ab 60 Minuten Verspätung gibt’s Geld zurück, am Schalter. 68 Minuten haben wir. Bis wir heimkommen, hat der Schalter zu. Von Plattling aus geht’s weiter. Dann nicht mehr. Der Zug steht. Blick aus dem Fenster: grauer Beton, grauer Regen. „Osterhofen“, murmelt einer. In Osterhofen hält kein ICE. Nicht gut. Die Lokelektronik sei abgestürzt, sagt der Schaffner. Der Lokführer telefoniere mit der Zentrale. Lokführer – nach Hause – telefonieren. Nicht gut. Ich stelle mir vor, wie im Führerstand der grüne und der gelbe Strom mit Fahrwerk und Bordcomputer sondieren für eine Arbeitskoalition. Sondierungen können scheitern. Weiß man.
Der Schaffner berichtet vom neuen Plan. Der Lokführer startet die Lok-Software neu. Heißt: 20 Minuten kein Licht im Zug, kein Klo, keine Heizung. Man könne auch auf dem Bahnsteig warten, bietet er an. Das ist die Wahl: Sitzen im kühlen Stockdunkel oder draußen stehen im kalten Regen? Immer diese Entscheidungen. Ich bleibe im Dunkeln sitzen.
Dann das Ende: Der Schaffner räumt die Titanic, Frauen und Kinder zuerst, alle raus, rüber aufs andere Gleis, ins „Rettungsboot Regionalexpress“. Vom Gegengleis betrachten wir „unseren ICE“. Traurig steht er da, wie ein gestrandeter Wal. Moby Dick auf Gleis 2. Züge fahren, Züge bleiben stehen. Manche für immer. Was passiert jetzt damit? „Der kompostiert sich“, scherzt einer. Von Ökostrom gespeist, von Bakterien zerfressen. Der Kreislauf des Lebens. Was wird auf seinem Grabstein stehen? „Er hat uns nach Osterhofen gebracht. Manche wollten nach Passau, manche gar nach Wien. Man kann nicht alles haben. Es gibt Lebenspläne. Es gibt die ICE-Elektronik.“
Es geht dann weiter nach Passau. Ein Bummelzug, der fährt, ist schneller als ein ICE, der steht. Physik. „Wie war die Fahrt?“, fragt meine Frau. „Nichts Besonderes“, sage ich, „ganz normal“.
Buchtipp:
Martin Riedlaicher ist Redakteur bei der Passauer Neuen Presse. In jeder Wochenendausgabe ist eine Kolumne von ihm zu lesen. Es geht um seine persönlichen Erlebnisse als Lokaljournalist, um Kuriositäten und Stilblüten aus Stadt- und Kreistag, und manchmal auch um die große Politik. Das Kolumnenbüchlein „Aus der Heimat: Menschen, Tiere, Klassenfahrten“ ist im Buchhandel erhältlich. Illustriert wurden die Kolumnen von Schülern des Kunst-Additums Q12 des Gymnasiums Untergriesbach.