Die EU wird oft als bürokratisches Monster hingestellt, das nichts anderes für seine Bürger übrig hat als (scheinbar) sinnlose Verordnungen, als eine Krake, die Menschen ihrer eigenen Entscheidungshoheit beraubt und die einschränkt. Ist das wirklich der Kern Europas oder sollten wir anstatt über gekrümmte Gurken, nicht über ganz andere Dinge diskutieren: Frieden und Freiheit zum Beispiel und darüber, wie wir uns das Zusammenleben in Europa künftig vorstellen?
Ich gehöre zu einer Generation, die kaum mehr etwas anderes kennt als offene Grenzen in Europa. Warten an der Grenze nach Italien, Schlangestehen vor dem Grenzhäuschen, das sind fast schon verblasste Erinnerungen aus meiner Kindheit.
Ich gehöre auch zu einer Generation, für die es normal ist, Freunde aus anderen Ländern zu haben, dank Social Media bin ich immer bestens informiert, was die gerade so treiben und fühle mich so auch ein bisschen als Teil von deren Leben, obwohl uns manchmal tausende Kilometer trennen.
Ich gehöre zu einer Generation, die bisher in Frieden leben durfte, die kaum Entbehrung kennt – der Kühlschrank ist immer voll, das Regal im Supermarkt sowieso, Sommerurlaub jedes Jahr – und vielleicht ist genau das auch ein Teil des Problems.
Europa, wie wir es heute kennen, entstand nach dem Zweiten Weltkrieg mit der ganz klaren Ansage im Rücken „Nie wieder Krieg!“ – keine Kleinstaaterei mehr, kein Nationalismus. Die Väter Europas hatten den Traum, das Leben auf dem europäischen Kontinent gemeinsam zu gestalten.
Die Schrecken zweier Weltkriege, ausgelöst durch eben jene nationalistischen Bestrebungen, und die harten, entbehrungsreichen Jahre der Nachkriegszeit saßen vielen noch in den Knochen, als in den 1950er Jahren mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) die unmittelbare Vorläuferorganisation der Europäischen Union aus der Taufe gehoben wurde. Damals waren es sechs Staaten, die diesen mutigen Schritt gegangen sind. Europa ist inzwischen gewachsen – von sechs auf 28 Mitgliedsstaaten – ob das zu schnell gegangen ist, ob es ein Europa der zwei Geschwindigkeiten gebraucht hätte oder brauchen würde, wie es führende Politiker immer wieder vorgeschlagen haben, darüber lässt sich trefflich streiten. Der Punkt ist aber: der gemeinsame Weg darf nicht rückwärtsgegangen werden.
Europa ist eine Idee –
vom Zusammenleben,
vom gemeinsamen Gestalten.
Und vom Frieden.“
Brexit
Genau diesen Eindruck kann man momentan jedoch gewinnen. Wir machen den einen um den anderen Schritt rückwärts, wenn wir über Grenzzäune reden, wenn Populisten erstarken, die sich nicht nur gegen Flüchtlinge, sondern auch gegen alles Inter- und Transnationale wehren. Das Fremde wird als Schlagwort in die öffentliche Diskussion geführt. Ideologisch aufgeladen und negativ behaftet, wird so die Furcht vor allem Fremden geschürt und damit auch vor Neuem. Das beginnt im Kleinen, wenn Landgemeinden ihre Baugrundstücke am liebsten nur an „Hiesige“ vergeben wollen und endet beim Brexit. Dass man von Fremden auch etwas lernen kann, dass neue Denkweisen bereichernd und befruchtend sein können, wird allzu oft vergessen.
Ich war gerade in Schottland, als vor drei Jahren das Referendum den Weg in den Brexit ebnete. Damals habe ich in verlorene und ratlose Gesichter geblickt. All die Plaketten und Banner „Scotland and Europe making it work together“, die seither angebracht wurden, haben nichts bewirkt. Der Brexit ist beschlossene Sache. Die Frage ist nicht mehr ob, sondern wie er aussehen wird. Seither erlebt man ein Vereinigtes Königreich, das gar nicht mehr so vereinigt wirkt. Vielmehr ist es tief gespalten und vor allem eines: verunsichert bis ins Mark.
Was hat die EU ihren Bürgern gebracht?
Man fühlt sich ein bisschen an die britische Komikergruppe Monty Python erinnert. Da wird gefragt, was die Römer Gutes gebracht hätten. Es folgt eine lange Liste von Dingen, die es in den römischen Provinzen zuvor nicht gegeben hatte. Umgemünzt auf die Frage, was die EU seinen Bürgern gebracht hatte, fallen einem vielleicht die Verordnungen rund um die Krümmung von Gurken oder die Anzahl der Salzkörner auf Brezen ein. Eines muss man wissen, einiges davon gehört ins Reich der Phantasiegeschichten. So gab es nie eine Karamellbonbon-Verordnung, die jedoch bis heute gerne angeführt wird, wenn man die EU als bürokratisches Monstrum beschreiben will. Die Verordnung zur Krümmung der Gurke kam übrigens auf Druck des Handels zu Stande, wurde jedoch später wieder abgeschafft.
Nun aber zum Positiven: neben offenen Grenzen sind vor allem die Freiheitsrechte zu nennen, dass jeder EU-Bürger frei entscheiden kann, wo er leben, arbeiten oder studieren möchte. Wir schätzen die Reisefreiheit und der internationale Austausch zwischen jungen Leuten hat durch europäische Programme wie Erasmus oder Interrail enorm gewonnen. Auch wenn die Münzsammelalben durchaus ihren Charme hatten, die gemeinsame Währung macht vieles leichter, innere Sicherheit ist ein überaus wichtiger Punkt und wer im Urlaub krank wird, geht einfach mit seiner Versichertenkarte zum Arzt.
Alles selbstverständlich
Wir haben uns so sehr an all diese Annehmlichkeiten gewöhnt, dass wir keinen Gedanken mehr daran verschwenden, woher sie kommen und was es bedeuten würde, sie aufzugeben. Generationen vor der meinigen haben hart um all diese Dinge gerungen. So wie Rom nicht an einem Tag erbaut wurde, ist auch die EU nicht in einer Nacht vom Himmel gefallen. Da waren Fragen, da waren Zweifel, da waren auch Ängste und Rückschläge – und doch hat man sich dafür entschieden, sich gemeinsam auf den Weg zu machen. Das war mutig. Und jetzt?

Foto: TIERO / Adobe Stock
Ist das der Weg zurück in die Kleinstaaterei, zurück zum Nationalstaat? Ich habe Angst. Nicht, weil ich dann an der Grenze in den Sommerurlaub wieder warten müsste. Nicht, weil man vielleicht wieder Geld wechseln müsste – wobei der Euro zugegebenermaßen schon ziemlich bequem ist, und auch nicht, weil künftig wieder Roaming-Gebühren anfallen könnten. Sondern weil Europa mehr ist, als ein Verwaltungs- und Kontrollapparat, der seinen Bürgern das Leben schwer machen möchte.
Europa ist eine Idee – vom Zusammenleben, vom gemeinsamen Gestalten. Und vom Frieden. Das alles ist nicht selbstverständlich, das alles bedeutet harte Arbeit und den Willen, etwas zu bewegen. Wir alle können Baumeister eines lebenswerten Europas sein, wir müssen es nur wollen und uns aufraffen, etwas dafür zu tun.
Roadtrip mit Mission
Ina Bierfreund (24), Felix Hartge und Tim Noetzel (beide 23) aus Hamburg wollen Europa auf den Grund gehen. Sie wollen den Entwicklungen auf den Zahn fühlen und die Menschen kennenlernen. Dazu haben sie sich auf eine besondere Reise begeben: die drei Freunde wollen mit ihrem Van alle 28 Länder der EU bereisen und mit den Menschen dort über Politik und die Haltung zur EU sprechen. Ein Farmer aus Nordirland, eine Nonne aus Belgien, eine Winzerin aus Frankreich, ein Polizist aus Spanien, ganz unterschiedliche Menschen mit ganz unterschiedlichen Argumenten und Einschätzungen. Am Ende soll aus den Interviews eine Dokumentation entstehen, einen Trailer wollen sie zur Europawahl im Mai fertig stellen. „Europa ist gerade nicht so beliebt, in vielen Ländern gibt es einen Rechtsruck. Das fanden wir spannend“, sagen die drei im Interview mit ZEIT online. Verfolgen kann man die Reise auf der Website „Driving Europe“. Was die drei machen, entspricht dem europäischen Geist par exellence – hinschauen, hinhören, verstehen lernen statt vorzeitig zu urteilen. Nun kann nicht jeder mehrere Monate lang quer durch Europa touren, aber wenn wir alle die Gelegenheiten nutzen, die sich in unserem persönlichen und beruflichen Umfeld ergeben, wenn wir wieder mehr miteinander ins Gespräch kommen und im Gespräch bleiben, wenn wir (scheinbare) Argumente im öffentlichen Diskurs kritisch hinterfragen, über den eigenen Tellerrand hinausschauen und dem Fremden und Neuen eine Chance geben, dann bauen wir alle weiter, an einem einigen und friedlichen Europa.
Beitragsbild: PICT RIDER / Adobe Stock