Nicht jeder muss das Rad neu erfinden. Wenn Gemeinden, Verbände und Vereine zusammenlegen, was sie am besten können, entstehen oft innovative Projekte, die Menschen zusammenbringen. Deutscher Alpenverein und Malteser Hilfsdienst tun das. In ihrem gemeinsamen Projekt Alpen.Leben.Menschen kommen Flüchtlinge an, im bayerischen Alpenraum und in einer Gemeinschaft von Sport- und Naturbegeisterten.
Blauer Himmel, Kaiserwetter, ein Bergsee glitzert in der Sonne. Eine Wandergruppe ist auf dem Weg durch die sommerlichen bayerischen Alpen. Der Kies knirscht unter ihren Schuhen. Eigentlich kein ungewöhnliches Bild in dieser Gegend – aber irgendwie doch. Denn vor dem gleißend weißen Hintergrund der Berge hebt sich neben der neonfarbigen Wanderbekleidung vor allem eines ab: die dunkle Hautfarbe einiger Wanderer.
Ungewöhnlich, aber keines Falls unmöglich: Im August 2016 hat der Deutsche Alpenverein (DAV) gemeinsam mit dem Malteser Hilfsdienst das Projekt Alpen.Leben.Menschen, kurz A.L.M., ins Leben gerufen. Seitdem verbringen die Projektkoordinatoren und viele ehrenamtliche Helfer Zeit mit Flüchtlingen in den Bergen, um ihnen das Ankommen im bayerischen Alpenraum zu erleichtern. Mit finanzieller Unterstützung der Deutschen Bundesstiftung Umwelt soll Flüchtlingen so die Chance gegeben werden, neue Freundschaften mit Einheimischen und Helfern zu knüpfen und ihre neue Umgebung kennen und schätzen zu lernen. Das Projekt soll gleichzeitig vor allem junge Menschen für Umweltfragen und -probleme sensibilisieren. Das könne auf ganz unterschiedliche Weise passieren, sagt Anna Schober, die sich seit dem Start von A.L.M. um die zentrale Projektkoordination kümmert und dafür vom Boden- bis zum Königsee 47 DAV-Sektionen und fünf Malteser Dienststellen miteinander abstimmt. „Egal ob beim Wandern oder Klettern, auf Naturerlebnispfaden oder im Heimatmuseum, das Zentrale an unserem Programm ist, dass es total niederschwellig ist und es nicht die typische Lehrer-Schüler-Beziehung zwischen Integrationshelfern und Flüchtlingen gibt.“
Gut ausgerüstet auf den Berg
Aus der ursprünglichen Idee, einfach die bereits bestehenden Gruppen des DAV für Flüchtlinge zu öffnen, haben sich ein eigenes Tourenprogramm und viele weitere Aktivitäten entwickelt, wie zum Beispiel die Begehung von Naturlehrpfaden, das Kennenlernen von Naturschutzgebieten, Schnitzeljagden für Kinder, Geocaching mit Umweltaspekten, Schutzwaldpflanzaktionen, Wegesanierungen oder der Besuch von Heimatmuseen und Berghütten. Bei allen Angeboten sind Flüchtlinge und Einheimische gleichermaßen willkommen, die Teilnahme, auch bei Übernachtungen, Gondelfahrten oder Rodelausflügen ist kostenlos. Zum Programm gehören auch die in den vier Regionen Garmisch-Patenkirchen, Allgäu, Rosenheim und Berchtesgadener Land aufgebauten Ausrüstungsbörsen, an denen sich Flüchtlinge das für den jeweiligen Ausflug notwendige Equipment ausleihen können. Diese Börsen leben von unverzichtbaren Ausrüstungsspenden, wie Bergschuhe, Kleidung, Rucksäcke, Handschuhe, Helme, Seile, Klettersteigsets, Buffs und vielem mehr. Ohne sie wäre es für viele Geflüchtete unmöglich, an den Ausflügen teilzunehmen, sagt Anna Schober. „Am Anfang standen manche mit Sandalen und Plastiktüten am Treffpunkt, weil sie keine Ausrüstung und auch keine Ahnung hatten, worauf sie sich einlassen.“
Für viele Flüchtlinge aus Afrika ist Schnee eine ganz neue Erfahrung.
Schon allein solche Hürden bieten Gesprächsstoff über die unterschiedlichen Kulturen und die Menschen kommen unkompliziert miteinander ins Gespräch. „In vielen afrikanischen Kulturen gibt es zum Beispiel kein Wochenende“, erzählt Anna Schober, die selbst in Kenia studiert hat. „Und wenn sie eins haben, nutzen sie es, um sich von der anstrengenden körperlichen Arbeit zu erholen und nicht, um sich auch noch in ihrer Freizeit körperlich zu betätigen.“ Umgekehrt kennen die Afrikaner zum Großteil keinen Winter. „Hier muss erst einmal erklärt werden, was die Natur im Winter überhaupt macht, wie die Tiere damit umgehen. Die einen machen Winterschlaf, andere, wie die Eichhörnchen, legen sich Futtervorräte an.“ Bei solchen Gelegenheiten arbeitet Schober gerne mit Anschauungsmaterial, wie zum Beispiel einem Stück Winterfell. „Manche Dinge muss man einfach begreifen.“
Ab und an kommt es auch zu fachlichem Austausch. „Wir hatten schon Jäger aus verschiedenen Ländern dabei, die sich über Tierspuren ausgetauscht haben. Ein afrikanischer Jäger hat dann beim Abdruck eines Hirschs gefragt, ob das die bayerische Gazelle ist. Die Natur bietet so viele Gesprächsanknüpfungspunkte.“
Selbstverständliches neu wertschätzen
Für Anna Schober haben viele Dinge durch das Projekt eine ganz neue Wertigkeit bekommen. Bei einem der Workshops für die Umweltbildung, die A.L.M. zusammen mit Partnern anbietet, ging es um das Thema Wasser. „Wir haben uns die Seen und Gebirgsbäche angeschaut und da hat ein Mann gesagt, dass es Wahnsinn sei, wie viel sauberes, klares Wasser hier fließt. Am liebsten würde er eine Pipeline zu seiner Mama nach Hause bauen, damit sie auch etwas davon haben kann. Für mich war das irgendwie ganz selbstverständlich.“

Der obligatorische Eintrag ins Gipfelbuch gehört bei jeder Tour natürlich dazu.
Da sich das Projekt ganz bewusst im ländlichen Raum angesiedelt hat, weil in der Stadt die Dichte an Versorgungsstrukturen deutlich höher ist, ist der Fahrdienst der Malteser die ideale Ergänzung für das Engagement des DAV, um die Touren für alle erreichbar zu machen. Denn die Unterbringung der Flüchtlinge ist Anna Schober oftmals ein Rätsel: „Sie werden irgendwo im Nirgendwo untergebracht, wo sie von alleine nirgendwo hinkommen, weil es keine Busse gibt und man wundert sich, dass sie keinen Anschluss finden. Manchmal gewinnt man fast den Eindruck, da steckt System dahinter.“ Hier sei es umso wichtiger, den Flüchtlingen Zugang zu integrativen Maßnahmen zu ermöglichen. „Wir verstehen uns auch ganz bewusst als Integrationsprojekt – nicht als Flüchtlingsprojekt. Das heißt, es geht uns um die Vernetzung verschiedener Lebenswirklichkeiten. So nehmen zum Beispiel auch benachteiligte deutsche Jugendliche unser Angebot wahr.“
Zu den Herausforderungen der Koordination gehöre es, die sportliche Leistung der Teilnehmer mit in die Planung einzubeziehen, denn der Fitnessgrad schwanke stark, sagt Schober: „Zu unserer Stamm-Mannschaft gehören einige Leute aus dem Hochland von Eritrea, die haben eine ganz andere Grundfitness als jemand, der aus einer syrischen Großstadt zu uns kommt. Manche haben auch Kinder oder Kinderwägen dabei.“ Die Sprachbarriere sei hingegen das geringste Problem. „Unsere Teilnehmer sind total wissbegierig. Die lernen auch mal das alpenländische Blumenvokabular mit Youtube. Nur beim Dialekt wird es manchmal schwierig. Da geben sich die Einheimischen aber immer viel Mühe.“
Die Fakten sprechen für sich: 1.000 Personen haben sich bereits an den Angeboten beteiligt und A.L.M. hat sowohl den Arge Alp Preis verliehen bekommen, als auch den Sonderwettbewerb „Soziale Natur – Natur für alle“ der UN-Dekade Biologische Vielfalt gewonnen. Dennoch läuft in diesem Sommer die Finanzierung des Projektes fürs Erste aus.
Förderer werden gesucht, genauso wie jüngere Personen, die sich gerne für das Projekt engagieren möchten: „Unsere Ehrenamtlichen haben häufig schon das Rentenalter. Wir möchten aber gerne alles abdecken“, sagt Anna Schober und betont, wie viel sie selbst von dieser Arbeit profitiert. „Es ist ein wahnsinnig spannender Job. Man darf viel geben, bekommt aber noch mehr zurück.“

Gut gelaunt – die Teilnehmer haben sichtlich Spaß.
Für Anna Schober selbst, die als gelernte Stadt- und Verkehrsplanerin in Afrika stillgelegte Schienengleise reaktiviert hat, kommt mit A.L.M. ein Stück dieser Kultur zu ihr ins Berchtesgadener Land zurück.
Fotos: A.L.M.