Kirchliches Engagement hat viele Gesichter
Ursula Kalb (58 Jahre) ist Diplomtheologin und Gründungsmitglied der Gemeinschaft Sant’Egidio in Deutschland. Sant’Egidio wurde 1986 vom Vatikan als „Öffentlicher Verein von Gläubigen“ offiziell anerkannt. Heute gibt es Sant’Egidio in mehr als 70 Ländern auf vier Kontinenten. Die Gemeinschaft hat etwa 60.000 Mitglieder. Sant’Egidio steht für Freundschaft mit den Armen, Gebet und Verkündigung des Evangeliums und Einsatz für den Frieden.
Warum engagieren Sie sich ehrenamtlich?
Schon als Jugendliche lernte ich die Gemeinschaft Sant’Egidio in Rom kennen und verstand, dass man als Christ für die anderen da ist, vor allem für die Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen. So lernte ich viele Situationen von Armut kennen: bei Kindern und Familien aus einem sozialen Brennpunkt in Würzburg, bei Geflüchteten, obdachlosen und alten Menschen. Das, was ich ehrenamtlich tue, ist für mich gelebtes Evangelium. Das habe ich in der Gemeinschaft Sant’Egidio gefunden.
Wie sind Sie zum freiwilligen Engagement gekommen?
Die Begegnung mit der Gemeinschaft in Rom war so nachhaltig, dass wir in Würzburg anfingen, die Armen der Stadt kennen zu lernen. Gleichzeitig begannen wir, durch das Lesen und Reflektieren des Evangeliums zu verstehen, dass die Armen heute die Armen und Ausgestoßenen zur Zeit Jesu sind. Das Evangelium wurde lebendig und veränderte unser Leben.
Was beschäftigt Sie im Moment?
Ich lebe seit fast fünf Jahren in München. Hier begegne ich allen Problemen einer Großstadt: Vereinzelung und Einsamkeit, leben in getrennten Welten, eine große Schere zwischen Arm und Reich. In München leben etwa 9.000 Menschen ohne Wohnung. Was uns als christliche Gemeinschaft große Sorgen macht, ist der wachsende Rassismus, die Angst vor dem Fremden. Was wir feststellen, ist die Tatsache, dass viele Menschen das Evangelium nicht mehr kennen, vor allem beim jungen Leuten ist das leider der Fall. Das ist eine Herausforderung für uns und die ganze Gesellschaft.
Die Gemeinschaft in München bietet kostenlose Deutschkurse, betreut alte Menschen in Heimen und hilft Kindern und Jugendlichen aus sozialen Brennpunkten und Flüchtlingskindern.
Was wollen Sie bewegen?
Wir haben als Christen die Aufgabe, die Zeichen der Zeit zu erkennen und zu handeln. Wir wollen die Welt menschlicher machen und auf der Seite der Armen stehen. Wir möchten für die Schönheit und Strahlkraft der Frohen Botschaft Zeugnis geben. Wir leben in einer Zeit wachsender Gewalt, vieler kriegerischer Auseinandersetzungen, in einem Europa das sich abschließt und Angst hat. Nationalismen und Rassismus sind wieder gesellschaftsfähig geworden. Wir wollen eine menschenwürdige Welt für alle mit aufbauen.
Kirchliches Engagement hat Zukunft, weil…
… es das Leben reich macht an Menschlichkeit und Werten. Weil es notwendig ist. Weil „Geben seliger ist als Nehmen“. Ich glaube, dass mit Papst Franziskus eine neue Epoche in der Kirche angebrochen ist. Die Kirche der Strukturen ist wichtig, aber die Erneuerung erfolgt außerhalb der Strukturen. Papst Franziskus sagt: „Öffnet die Türen und Fenster der Kirchen, geht hinaus auf die Straßen.“ Und er sagt: Geht von der Peripherie aus. Ich denke, dass das die Zukunft der Kirche ist.
Foto: privat