Christian Dosch, Projektleiter von Allgäu Digital in Kempten, fürchtet keine endzeitlichen Szenarien, in denen autonom agierende Künstliche Intelligenzen die Kontrolle über die Welt übernehmen. Für ihn ist die digitale Transformation eine große Chance, die es zu gestalten gilt. Die Gründerplattform Allgäu Digital leistet ihren Beitrag dazu: sie hilft jungen Start-up-Unternehmen im Allgäu aus den Kinderschuhen.
Gemeinde creativ: Herr Dosch, können Sie uns die Idee hinter „Allgäu Digital“ erläutern?
Christian Dosch: Die Initiative Allgäu Digital wird von drei öffentlichen Partnern getragen, der Allgäu GmbH, der Hochschule Kempten und der Stadt Kempten. Diese drei Partner haben sich im Rahmen des bayernweiten Wettbewerbs „Digitale Gründerzentren und Netzwerke in Bayern“ beworben und den Zuschlag bekommen. Politik und Wirtschaft haben erkannt, dass man den Umwälzungen, ausgelöst durch die Digitalisierung, offensiv begegnen muss. Etwa ein Dutzend Gründerzentren sind in der ersten Phase in Bayern gestartet worden. Für das Allgäu haben sich die drei genannten Partner beworben und bilden gemeinsam mit Augsburg das „Digitale Zentrum Schwaben“.

Die Digitalisierung ist die größte Umwälzung seit der Industriellen Revolution. So gesehen hat sich Allgäu Digital eine wirklich spannende Location ausgesucht: Die Räume der ehemaligen Spinnerei Kempten. Wo einst Industrielle Revolution stattfand, geht es heute um die digitale Transformation. Foto: Allgäu GmbH / Tobias Hertle
Ein digitales Gründerzentrum würde man jetzt in einem schicken Neubau – viel Glas, moderne Büroräume – erwarten. Allgäu Digital dagegen ist an einem geschichtsträchtigen Ort untergebracht…
Auch in der digitalen Welt geht es nicht ohne reelle Orte, an denen man sich austauscht, sich vernetzt, an denen sich community bildet. So einen Raum – eine Mischung aus offener Arbeitsfläche und Kommunikationsort – haben wir gesucht, und in den Räumen der ehemaligen Weberei-Spinnerei Kempten gefunden. Ich finde das sehr spannend: wir beginnen mit der Digitalisierung ein neues Kapitel in der Arbeitswelt an dem Ort, an dem früher die Industrielle Revolution stattgefunden hat. Es sind noch einige Arbeitsgeräte und Maschinen aus dieser Zeit hier in der Halle. Wir haben ganz bewusst einen Werkstattcharakter erhalten wollen – um zu zeigen, dass es nicht um Perfektion geht, sondern um das Starten und Machen.
Welche Projekte sind momentan unter diesem Dach zu finden?
Die Projekte sind sehr unterschiedlich. Was sie verbindet ist, dass es sich bei allen um junge Unternehmen mit digitalen Geschäftsmodellen handelt, die sich einen Markt erobern wollen. Wir haben hier zum Beispiel „Regiostern“. Das Unternehmen will Landwirten helfen, ihre Produkte direkt zu vermarkten. Dann gibt es „Bersabee“, einen IT-Dienstleister, der versucht, Unternehmen und Technologieanbieter zusammenzubringen – eine Art „Parship für Unternehmen“. Dann ist da noch „Tankerkönig“, eine Echtzeit-API für Tankpreise. Das ist für Hersteller von Navigationsgeräten interessant, um Kunden nicht einfach zur nächsten, sondern zur günstigen Tankstelle zu lotsen. Außerdem unter unserem Dach: ein junges Game-Studio, jemand aus der Baubranche, ein Online-Ticketing-System.
Warum gerade der Standort Kempten, warum nicht eine Metrolpolregion?
Es gibt die großen Start-up-Metropolen, allen voran in Deutschland sicher Berlin. Wenn digitale Transformation in ganz Bayern gelingen soll, dann darf man nicht nur auf die Metropolen fokussiert sein. Jede Region hat ihre Branchen. Hier bei uns im Allgäu sind das zum Beispiel Landwirtschaft, Maschinenbau, Ernährung und Verpackung und natürlich der Tourismus. All diese Bereiche sind massiv von der Digitalisierung betroffen. Da liegt es nahe, dass die Dinge, die für eine gelingende Transformation gebraucht werden, auch vor Ort entstehen. Vor Ort gibt es in den betroffenen Sparten zu meist das größte Know-how, die beste Vernetzung und Strukturen, auf die man aufbauen kann. Ein Nachteil ist sicherlich, dass die Mehrheit der jungen, „start-up-affinen“ Talente im Moment noch eher in den Metropolregionen anzutreffen ist. Generell fehlt es momentan an jungem Personal mit IT-Kompetenz, die zu Gründern avancieren wollen.
Woran liegt das?
An der gestiegenen Nachfrage in diesem Bereich. Früher haben Unternehmen Leute gesucht, die Maschinenbau oder BWL studiert hatten. Momentan bauen Firmen ihre Strukturen und Arbeitsabläufe um, viel mehr passiert digital, es entstehen unzählige neue Dienstleister in diesem Bereich. Der Markt gibt all die IT-Spezialisten gar nicht her. Im Bereich der Start-Ups kommt hinzu, dass man ein gewisses Maß an Risikofreude und Unternehmergeist mitbringen muss. Viele entscheiden sich dann doch für den sicheren Job in einem mittelständischen Unternehmen als für die Gründung eines eigenen Start-Ups mit offenem Ausgang.
Digitalisierung: Chance oder mehr Risiko?
Ganz eindeutig: Chance, sonst wäre ich auf meinem Posten auch falsch. Eigentlich mag ich den Begriff „Digitalisierung“ gar nicht so gerne. Mir ist „digitale Transformation“ lieber. Digitalisierung klingt immer so, als geschehe etwas passiv mit einem, auf das man keinen richtigen Einfluss habe. Aber das stimmt nicht: wir müssen diese Prozesse nur aktiv mitgestalten. Wir können sie nutzen, um Dinge einfacher zu machen, um uns von stupiden Arbeiten zu befreien und uns damit wieder mehr Raum für Kreatives, für Neues und für Erfinderisches schaffen. Das funktioniert aber nicht, wenn man weitermacht wie bisher. Diese change-Prozesse sind für Unternehmen tiefgreifend, da geht es auch um Dinge wie Unternehmenskultur, Führung und agile Teamarbeit. Sie müssen ihr Geschäftsmodell, ihre Prozesse, ihren Umgang mit Daten, ihre Kundenbeziehungen und ihre Digitalkompetenz von Grund auf in Frage stellen. Ich glaube auch generell, dass wir keine Angst haben müssen. Es wird genügend Tätigkeiten geben, die uns kein Algorithmus der Welt abnehmen kann. Und lassen Sie uns nicht vergessen, dass wir in Deutschland im Moment von Fachkräftemangel in diversen Branchen sprechen. Die Arbeitswelt wird sich verändern, keine Frage, einige Berufe werden verschwinden, dafür werden andere entstehen. Hier müssen wir uns Gedanken machen, wie wir alle Menschen mitnehmen können, damit niemand zurückgelassen wird. Das ist eine wichtige politische Aufgabe.
Wird es den klassischen Arbeitsplatz, so wie man ihn bisher kannte, weiter geben oder werden Schreibtische und Büroräume zugunsten von Home Office-Lösungen verschwinden?
Ich glaube, Digitalisierung ermöglicht es uns, die räumlichen Kontexte auszusuchen, die für die spezifische Arbeitsaufgabe und für unsere Lebenssituation inhaltlich passen. Sie bringt Flexibilität. Und das bedeutet längst nicht alles crowdworking oder ähnliche teils prekäre Arbeitsverhältnisse. Moderne Unternehmen sollten ganz unterschiedliche Räume anbieten: der eine braucht eine Ruhezone, weil er konzentriert an einem Konzept arbeiten muss, der andere einen kleinen Arbeitsraum für ein Projektteam, wieder ein anderer hält einen Workshop im Lernraum oder trifft sich im VR-Lab für eine Besprechung mit Außendienstmitarbeitern und wieder ein anderer kann seine Arbeit an diesem Tag auch vollständig von zu Hause aus erledigen. Wenn Firmen persönliche Arbeitsplätze abschaffen, ist das immer mit Verlustängsten verbunden. In vielen Bereichen kann es aber für die Mitarbeiter bereichernd sein, weil es ein effektiveres Arbeiten ermöglicht. Mir jedenfalls ist ein Mitarbeiter, der einige Stunden konzentriert für ein Projekt an einem Ort seiner Wahl arbeitet und ein tolles Ergebnis liefert, lieber, als einer der von neun bis fünf seine Zeit genervt im Büro absitzt.
Was wünschen Sie sich für Allgäu Digital?
Ich wünsche mir, dass Allgäu Digital als digitale Landmarke überregional ausstrahlt. Ich hoffe, dass es uns in zehn Jahren gelungen ist, das Feld hier in der Region zu bestellen, uns mit Themenplattformen wie Data Pioneers oder Industry Applied Game Technology überregional zu profilieren und digitale Talente ins Allgäu zu holen. Ich bin sicher, dass dann einige interessante Unternehmen gewachsen sein werden, denen wir in der Anfangsphase helfen konnten – Unternehmen, die zeigen, dass Digitalisierung nicht pauschal Jobs vernichtet, sondern neue Jobs erzeugt. Gerade im Bereich Tourismus können wir hier im Allgäu ein wirklich glaubwürdiges Start-up-Paket anbieten. Ich hoffe, dass wir einen Beitrag leisten können, zu zeigen, dass der ländliche Raum Zukunft hat.
Wo sehen Sie die digitale Welt in zehn Jahren?
Ich glaube, wir werden eine ganze Reihe an digitalen Assistenten haben, die wir über Sprache steuern, die mit einer spezifischen Intelligenz ausgestattet sind und uns durch den Alltag begleiten. Hier sehe ich viel Potential für Veränderung. Ich bin dankbar, wenn ich dank intermodaler, digitaler Verkehrskonzepte von Bus, Bahn und Auto schnell und nachhaltig reise, wenn ich mir in kassenlosen Supermärkten die Warteschlange spare, mir Terminassistenten die Koordination von Arzt- oder Friseurterminen abnehmen. Ich hoffe, dass digitale Erneuerungen uns das Leben leichter machen, dass sie uns lästige Dinge im Alltag abnehmen. Das hilft auch, wieder mehr Mensch zu sein: Zeit und Raum zu haben für soziale Beziehungen, für Austausch und kreative Ideen und sich zu fokussieren auf die Dinge, in denen wir als Menschen unersetzbar sind.
Christian Dosch ist seit Februar 2017 Projektleiter bei Allgäu Digital, er verantwortet die Projektentwicklung und die Konzeption neuer Netzwerkformate. Zuvor hat Christian Dosch Projekte in der Film-, Medien- und Kreativwirtschaft entwickelt und koordiniert, zum Beispiel als Leiter der Film Commission Region Stuttgart. In seiner Laufbahn hat Christian Dosch bereits Gründer begleitet, Konferenzen und Netzwerke initiiert, Weiterbildungsangebote aufgebaut und Innovations- sowie Internationalisierungsprojekte konzipiert. Neben Allgäu Digital ist Christian Dosch mit der Spurfinder GmbH selbstständig tätig.
Fotos: Allgäu GmbH / Tobias Hertle und Allgäu Digital GmbH