Es gibt Dinge, die vergessen Menschen ihr Leben lang nicht. Selbst, wenn sie an einer Demenz leiden, sind bestimmte Orte, Situationen und Begegnungen präsent. „Allerdings können sie uns oft nur Fetzen ihrer Erinnerung mitteilen“, sagt Petra Dlugosch vom Caritas-Seniorenzentrum St. Elisabeth in Kitzingen. Damit können Pflege- und Betreuungskräfte wenig anfangen. Mit Hilfe des Internets gelingt es, Erinnerungen zu vervollständigen und für andere nachvollziehbar zu machen.
Wer einen Menschen mit Demenz kaum kennt, läuft Gefahr, sehr unsensibel mit ihm umzugehen. Verhaltensweisen werden als „verrückt“ abgestempelt. Bedürfnisse ignoriert. Diese Erkenntnis ließ in den vergangenen Jahren die Bedeutung von Biografiearbeit wachsen. Allerdings ist es gar nicht so einfach, der Biografie eines dementen Menschen auf die Spur zu kommen. Zwar bringen viele Senioren Fotoalben in die Einrichtung mit. „Doch die besten Fotos nützen nichts, wenn sie nicht beschriftet sind“, sagt Dlugosch. Die Betroffenen selbst können oft nicht von sich aus sagen, welche Personen abgebildet sind.
Vor sechs Jahren begann Petra Dlugosch, in Kitzingen neue Wege zu gehen: Bei einer Studie, die sie am Ende ihres gerontologischen Masterstudiums durchführte, untersuchte sie Möglichkeiten, das Internet in der Biografiearbeit einzusetzen. Zehn Senioren mit Demenz nahmen teil. Die Ergebnisse waren ermutigend: „Sehen die Senioren am Bildschirm etwas Vertrautes, zum Beispiel den See ihres Heimatorts, können ganze Erinnerungskaskaden ausgelöst werden.“ Plötzlich fällt den alten Menschen wieder ein, mit wem sie als Kind immer schwimmen gegangen sind. Womöglich sind die Namen noch präsent. Es findet, so beschreibt es Petra Dlugosch, „eine kleine Explosion im Kopf statt“.
In der Arbeit mit Senioren wird gern alles in einen Topf geworfen. Zum Beispiel geht man davon aus, dass alle betagten Herrschaften früher gern Volkslieder gesungen haben. Man lässt sie also in der Gruppe alte Lieder singen und hofft auf positive Effekte. Das geht auch oft gut. Wobei es sein kann, dass jemandem bestimmte Lieder richtiggehend verhasst waren. Oder dass sie ungute Erinnerungen wecken. Falsch ist auch die Vorstellung, dass alle Frauen, die heute jenseits der 80 sind, Handarbeiten mochten. „Unser Projekt hingegen ist absolut individuell, wir gehen darauf ein, was für einen bestimmten Menschen wichtig war im Leben, was ihn berührt und bewegt hat“, sagt Dlugosch.
Mausklick in die Vergangenheit
Pflegekräfte können diese Form der Biografiearbeit allerdings nicht zusätzlich zu ihrer Arbeit leisten. Deshalb begann die Sozialpädagogin, junge Menschen zu fragen, ob sie sich hierfür engagieren würden. Bevor die Corona-Krise dazu führte, dass stationäre Einrichtungen geschlossen und Besuche eingeschränkt wurden, hatte sie drei Jugendliche an der Hand, die sporadisch vorbeikamen, um mit einigen Senioren eine Reise in deren Vergangenheit zu unternehmen. „Dabei ist eine Eins-zu-Eins-Betreuung nötig“, sagt Dlugosch. Von den hundert Bewohnern des Hauses St. Elisabeth kommen derzeit etwa 40 für die virtuelle Zeitreise in Frage.
Welchen Nutzen das Internet für Senioren haben kann, erkannte Dlugosch bereits vor zehn Jahren. Damals fiel im Seniorenzentrum ein Herr mit Demenz durch stark aggressives Verhalten auf. „Über Verwandte erfuhren wir, dass dieser Bewohner früher gern Tuba gespielt hat“, erinnert sich Dlugosch. Das brachte sie auf die Idee, im Internet nach Tuba-Musik zu suchen. Dlugosch stellte eine Serie kleiner, jeweils rund dreiminütiger Tuba-Sequenzen zusammen, fuhr den Senior im Rollstuhl vor den Rechner und spielte die Aufnahme ab: „Plötzlich war seine Stimmung sehr viel besser.“
Dies gab den Anstoß, das Thema „Biografiearbeit via Internet“ weiter zu vertiefen. „Inzwischen haben wir schon mehrere virtuelle Stadtrundgänge mit unseren Bewohnern unternommen“, berichtet Dlugosch. Sehr gut erinnert sie sich an einen Rundgang durch Haynau, eine heute „Chojnów“ genannte Stadt in Niederschlesien. „Eine Bewohnerin erzählte uns, dass sie am Marktplatz gewohnt hatte, und zwar im schmalsten Haus am Platz, und dass dieses Haus eine Dachgaube hatte“, so Dlugosch. Tatsächlich entdeckte sie das Gebäude im Internet. Daneben befand sich eine Drogerie, deren Name noch zu lesen war. Das alles rief viele Erinnerungen der Seniorin wach.
Für Betreuungskräfte und Angehörige ist es eine reizvolle Aufgabe, via Internet mit Senioren auf Spurensuche in der Vergangenheit zu gehen. Aber natürlich braucht es dazu die technischen Voraussetzungen. Im Haus St. Elisabeth sind diese optimal, da in die Einrichtung das Projekt „Mehrgenerationenhaus“ integriert ist. Dadurch ist ausreichend Equipment vorhanden, sagt Petra Dlugosch, die das Mehrgenerationenhaus seit 2008 leitet: „Wir haben zehn Tablets, Laptops und stationäre Computer.“ Dlugosch würde sich wünschen, dass die Geräte noch stärker für Biografiearbeit genutzt würden: „Mein Traum wäre eine Internetstunde pro Monat für jeden geeigneten Bewohner.“
Titelbild: Gemeinsam gehen junge Menschen und Senioren auf Spurensuche im Internet. Die Jugendlichen machen es möglich, dass die Senioren ihre beispielsweise ihre Geburtsstadt noch einmal besuchen und entdecken können, was sich so alles verändert hat. Oder sie steuern andere Plätze an, mit denen die Senioren besondere Erinnerungen verbinden – Urlaubsorte oder die alte Arbeitsstätte.
Fotos: Petra Dlugosch