Die Reformation ist mehr als Martin Luther. Im Jahr des 500. Reformationsgedenkens müssen auch die anderen europäischen Reformationsstränge in den Blick rücken.
Bild: Georgios Kollidas / Adobe Stock
Ein europäscher Ereigniskomplex
Die Reformation ist mehr als Luther. Diese scheinbar banale Aussage muss doch in diesem Jahr betont werden, wenn mit „1517“ Person und Wirkung Martin Luthers im Mittelpunkt des Reformationsjubiläums stehen. Nicht umsonst ziert das offizielle Logo des Reformationsjubiläums ein Porträt des Wittenberger Reformators, pikanterweise in schwarz-rot-gold. Die Reformation ein deutsches Ereignis? Keineswegs.
Das gilt schon für ihre Voraussetzungen: Der Göttinger Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann spricht von „Lateineuropa“ als dem Raum, in dem sich die Reformation entwickelte, und als notwendige Voraussetzung dafür. Damit ist zunächst der Raum gemeint, in dem die Jurisdiktion des Papstes und das kirchliche Recht galten, in dem die Liturgie nach dem römischen Grundmodell gefeiert wurde (mit regionalen Abweichungen) und in dem sich die Theologie in den Bahnen der akademischen Scholastik, der Mystik oder Frömmigkeitstheologie entwickeln konnte. Die gemeinsame Zugehörigkeit zur römischen Kirche machte Luthers Angriffe auf das Ablasswesen, das kirchliche Recht und die Autoritäten in der Kirche in ganz Europa interessant und relevant.
Dieses „Lateineuropa“ war aber auch ein Bewegungsraum, in dem zahllose Menschen aus unterschiedlichsten Gründen unterwegs waren. Die Orden des Mittelalters wie die Zisterzienser, Franziskaner, Dominikaner oder Augustiner-Eremiten hatten je eigene Strukturen der Kommunikation und Leitung aufgebaut, die recht unabhängig von Ländergrenzen funktionierten. Diese Strukturen funktionierten nur, wenn Ordensleute reisten – zwischen ihren Klöstern oder auch zum Papst nach Rom, wie es Martin Luther 1511/12 tat. Unterwegs waren aber auch Pilger, denn in ganz Europa gab es zahllose Wallfahrtsstätten, die aus unterschiedlichsten Motiven aufgesucht wurden: der eine wollte um Heilung für sich oder einen nahen Verwandten bitten, ein anderer Buße tun.
Ein anderes Netz, das ebenfalls über Europa lag, war dasjenige der Universitäten. Auch Studenten und Magister waren mobil, die gemeinsame lateinische Sprache ermöglichte die Kommunikation. Die Lehrpläne waren darüber hinaus überall sehr ähnlich und Abschlüsse wurden generell anerkannt. Außerhalb der Universitäten existierten die Netzwerke der humanistischen Gelehrten, die europaweit per Brief miteinander kommunizierten und auf diesem Weg wissenschaftliche Erkenntnisse ebenso austauschten wie Nachrichten von Kollegen oder aus der Politik. Zum gelehrten Austausch trugen der Buchdruck und der Buchhandel seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts maßgeblich bei; sie ermöglichten ebenfalls die europaweite Wahrnehmung des geschriebenen Wortes.
Außerdem gab es auch einen gemeinsamen Gegner, der Europa zusammenrücken ließ: das osmanische Reich, das sich im 15. Jahrhundert immer weiter ausbreitete. 1453 hatten die Osmanen Byzanz erobert, bis 1500 gehörte der gesamte Balkan zum osmanischen Reich. 1529 und 1532 standen „die Türken vor Wien“. Die gefühlte Bedrohung bestand jedoch nicht nur in der Kriegsmacht der Osmanen, sondern vor allem in der Religion des Islam. Daher sprach man wieder vom Kreuzzug als Kampf gegen die Ungläubigen – auch während der Reformationszeit ein beherrschendes politisches Thema. Das lateinisch-christliche Europa war die eigene Heimat, die es zu verteidigen galt.
Die Zugehörigkeit zur Papstkirche, die hohe Mobilität und vor allem der Informationsfluss, der nicht zuletzt dank des Handels und des akademischen Austausches vor allem zwischen den Städten kaum überschätzt werden kann, waren entscheidende Voraussetzungen für die Reformation. Schon im Frühjahr 1519 waren Sammelbände mit Werken Luthers aus der Basler Druckerei Froben nach Brabant, Frankreich und England geschickt worden; auch in Spanien und Italien wurden Luthers Werke schon 1519 verkauft. Die Wittenberger Reformation war auch ein großangelegtes PR-Projekt, in dessen Zentrum Martin Luther und die Cranach-Werkstatt standen. Ebenso wurde die kritische Auseinandersetzung mit Luther zu einem europäischen Projekt: Nicht nur im deutschen Sprachraum, sondern auch in Italien, Frankreich, den Niederlanden und England setzte man sich mit den Provokationen aus Wittenberg auseinander. Zugleich war der Ruf nach einer grundlegenden Reform der Kirche in ganz Europa zu hören, Luthers Anfragen machten das Anliegen in den Augen vieler nur noch dringlicher. Vor diesem Hintergrund wurden vielfältige Reform- und Reformationsprozesse in Gang gesetzt, die nur teilweise auf Luthers Gedanken basierten. Die scharfe Ablehnung Luthers und das engagierte Eintreten für Reformen in der Kirche mussten einander dabei keineswegs ausschließen – konfessionelle Uneindeutigkeit ist vor 1555 keine Seltenheit.
Gleichzeitig konnte sich die Wittenberger Reformation über die universitären und kirchlichen Netzwerke verbreiten, da Studenten aus Wittenberg an andere Universitäten wechselten oder Pfarrstellen einnahmen. Wichtige Reformatoren kamen zudem durch die Lektüre Luthers oder auch auf eigenen Wegen zu ähnlichen Grundgedanken, so etwa Johannes Oecolampadius, der vom Domprediger in Augsburg zum Reformator von Basel avancierte, oder Huldrych Zwingli, der auf einem ganz eigenen Weg zu einer reformatorischen Theologie gelangt war. Mit Zwingli sollte Luther eine heftige Kontroverse über die Abendmahlstheologie führen: War Christus in den Gestalten von Brot und Wein wirklich leibhaftig gegenwärtig (Luther) – oder waren Brot und Wein nur Symbole für ihn (Zwingli)? Hier liegt der Kern der Spaltung der Reformation, aus der neben dem Luthertum eine dritte Konfession entstehen sollte: das reformierte Bekenntnis. Ein weiterer und langfristig einflussreicherer reformierter Strang bildete sich in den 1540er Jahren mit dem von Johannes Calvin geprägten Genfer Weg heraus.
Seit den 1520er Jahren entwickelte sich vor diesem Hintergrund eine neue kirchliche Landkarte Europas. So markiert beispielsweise in Schweden der Reichstag von Västerås (1527) den Beginn des Reformationsprozesses, in England die Suprematsakte (1534). In beiden Fällen beginnt die Reformation mit einem politischen Prozess der Loslösung vom Papsttum in Rom, die Übernahme reformatorischer Theologie und Bekenntnisse erfolgten erst in einem zweiten Schritt. Wo die Reformation nicht derart vom Königtum gesteuert wurde, entwickelten sich andere gesellschaftliche Dynamiken und Konflikte. In Italien etwa bildeten sich reformatorische Zirkel, insbesondere in den Städten des Nordens. Mancher Bischof war geneigt, Kompromisse mit deren Reformvorstellungen einzugehen, dies wurde aber von der 1542 gegründeten Römischen Inquisition unterbunden. In Frankreich wurden Konflikte im Hochadel mit Konfessionsfragen verbunden und führten so zur Epoche der blutigen Religionskriege. In den Niederlanden wurde der Aufstand gegen die spanische Herrschaft als Freiheitskampf des reformierten Bekenntnisses gegen die Unterdrückung durch die katholischen Spanier interpretiert.
So mündete die Reformationsgeschichte in einen mühsamen Prozess, in dem Europa neue Friedensordnungen und das Aushalten der konfessionellen Andersartigkeit lernen musste. Ebenso wie der Anfang verweist das Ende der Reformationsepoche darauf, dass „Reformation“ hochkomplexe Prozesse bezeichnet, die nur im europäischen Rahmen angemessen gewürdigt werden können.