Nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Demokratien erleben wir gegenwärtig eine tiefe Verunsicherung. Das Vertrauen vieler Bürger in die demokratischen Entscheidungsprozesse hat beinahe flächendeckend abgenommen. In Deutschland ist nur noch eine Minderheit von 46,6 Prozent mit der Art und Weise, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert, zufrieden. Mehr als zwei Drittel sind in Bezug auf die Zukunft pessimistisch.
Gleichzeitig erhalten politische Bewegungen Zulauf, die das politische System und seine Repräsentanten zum Teil fundamental kritisieren. Seit Ende 2018 gehen weltweit Millionen von Jugendlichen auf die Straßen, um gegen die Klimapolitik der etablierten politischen Akteure zu demonstrieren. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums feiern populistische Parteien Wahlerfolge. Die etablierten politischen Parteien haben hingegen in vielen Ländern drastisch an Zustimmung verloren.
Die Folgen sind gravierend. Parteiensysteme, die über viele Jahrzehnte stabil erschienen, verändern sich derzeit in rasantem Tempo. In Deutschland konnte man dies bei der Bundestagswahl 2017 und den letzten Landtagswahlen an den erheblichen Verlusten der ehemaligen Volksparteien SPD und CDU/CSU und am Aufstieg der AfD beobachten. Die Veränderungen der Parteienlandschaft sind mit beträchtlichen Auswirkungen verbunden: Je mehr Parteien in den Parlamenten agieren und je polarisierter die Parteienlandschaft ist, desto schwieriger wird es, Regierungen zu bilden und politische Entscheidungen zu treffen. Das Brexit-Chaos im britischen Unterhaus, das Scheitern der vormaligen Regierung in Italien und die vergebliche Suche nach einer Regierungsmehrheit in Spanien sind aktuelle Beispiele dafür. Auch in Deutschland dauerte es nach der Bundestagswahl 2017 ganze 177 Tage, bis eine neue Regierung vereidigt werden konnte.
Ratlosigkeit auf zwei Seiten
Diese Entwicklungen haben wiederum ihrerseits zu einer erheblichen Verunsicherung bei den gewählten politischen Akteuren geführt. Bei der Frage etwa, wie man sich mit populistischen Kritikern der freiheitlichen Demokratie argumentativ auseinandersetzen soll, herrscht große Unsicherheit. Während die einen für eine konsequente politische Ausgrenzung plädieren, suchen andere die argumentative Auseinandersetzung. Wieder andere übernehmen zumindest punktuell politische Positionen populistischer Parteien, in der Hoffnung, damit verlorengegangene Wählerstimmen zurückgewinnen zu können. Auch angesichts der Schulstreiks und der Massenproteste von „Fridays for Future“ erscheint die etablierte Politik oft ziemlich ratlos: Soll man die hohe Motivation und das politische Engagement der Klimaaktivisten loben, mit ihnen ins Gespräch kommen oder lieber doch an die Schulpflicht erinnern und darauf verweisen, dass die Klimapolitik bei den herkömmlichen demokratischen Repräsentationsorganen in guten Händen sei?
Der Vertrauensverlust, den wir derzeit in vielen demokratischen Systemen beobachten, hat somit im Grunde zwei Seiten: Einerseits trauen viele Bürger „den Politikern da oben“ nicht mehr zu, zentrale Herausforderungen unserer Zeit zu meistern, andererseits ist auch bei vielen politischen Mandatsträgern ein gewisses Misstrauen gegenüber der Urteilsfähigkeit der Wähler zu spüren. In den sozialen Netzwerken dagegen tummelt man sich mit Gleichgesinnten, bestätigt sich gegenseitig in seiner politischen Haltung und beschimpft die anderen. Ein Austausch von Argumenten, der so wichtig für den demokratischen Prozess ist, findet in solchen Echokammern nicht mehr statt.
Sorge und Hoffnung der Menschen
Die Ursachen für diese politische Verunsicherung sind vielfältig. Ausgelöst wurde sie zweifellos durch aktuelle äußere Entwicklungen der letzten Jahre. So erzeugten beispielsweise Globalisierungsprozesse – sichtbar durch Migration und internationalen ökonomischem Wettbewerb – bei vielen Menschen Hoffnungen, bei anderen hingegen Sorgen. Die rasant voranschreitende Digitalisierung verursacht ebenfalls einen umfassenden Veränderungsdruck, der einerseits vielen Menschen neue berufliche und private Aussichten eröffnet, andererseits aber vielen Menschen Angst macht. Unmittelbar erfahrbar ist für alle nicht zuletzt auch der Klimawandel. Während die einen – allen voran die junge Generation – in der Klimapolitik und im Erreichen von Klimazielen das Gebot der Stunde sehen, bleiben andere abwartend. Alle drei Phänomene – Globalisierung, Digitalisierung und Klimawandel – tragen heute zu einer neuen Konfliktlinie in der Gesellschaft bei, die im Kern zwischen den Skeptikern und den Befürwortern einer sozialen, kulturellen und ökologischen Modernisierung verläuft.
Komplex und öffentlich
Neben dieser aktuellen Konfliktlinie geht die politische Verunsicherung aber auch auf Faktoren zurück, die mit längerfristigen Wandlungsprozessen in der Gesellschaft zu erklären sind. Beispielsweise hat die politische Informiertheit im Zeitalter des Fernsehens, des Internets und sozialer Medien deutlich zugenommen. Probleme und Herausforderungen werden heute viel schneller und unmittelbarer wahrgenommen als früher. Oft sind die Herausforderungen jedoch so komplex, dass sie kaum verstanden werden können: Wie funktioniert nochmal der Europäische Stabilitätsmechanismus, mit dem Staatsbankrotte überschuldeter Euro-Mitgliedsländer verhindert werden sollen? Und warum gehen in Großbritannien die Brexit-Befürworter gegen den „Backstop“ auf die Barrikaden? Selbst Politikexperten tun sich heute mit der Beantwortung solcher Fragen schwer.
Auch der politische Prozess selbst hat sich unter den Bedingungen des Informationszeitalters erheblich verändert. Praktisch läuft heute alles, was politisch geschieht, in aller Öffentlichkeit ab. Dies hat nicht nur positive Effekte: Zwar erleichtert es die demokratische Kontrolle und Versäumnisse der politischen Akteure werden auf diese Weise schneller aufgedeckt, aber die permanente Öffentlichkeit kann auch dazu führen, dass Politiker auf schnellen Beifall aus sind und die Darstellung von Politik wichtiger wird als deren Substanz.
Zu Unzufriedenheit und Verunsicherung tragen ohne Zweifel auch die traditionellen Strukturen repräsentativer Demokratien bei. Das gewollt komplexe System des Zusammenwirkens der verschiedenen politischen Organe in demokratischen Systemen wird zunehmend als langsam und träge empfunden. Dieser Eindruck wird angesichts wachsender parteipolitischer Fragmentierung und Polarisierung noch verstärkt und ist keineswegs unbegründet.
Soziale Kluft
Gerade soziale Ungleichheit ist allerdings ein weiterer Faktor, der mit Unzufriedenheit und mangelndem Vertrauen in das Funktionieren der Demokratie korreliert. Finanziell schlechter Gestellte und niedrig Gebildete haben deutlich weniger Vertrauen in Demokratie und Politik als Einkommensstarke und Hochgebildete. Einkommensschwache Bürger sind zu über 80 Prozent der Meinung, dass sich die Politiker nicht um die Sorgen von Menschen wie ihnen kümmern. Unter den Einkommensschwächeren und formal weniger Gebildeten beklagen auch mehr als 70 Prozent die hohe Komplexität des Politischen. So überrascht es nicht, dass das soziale Gefälle im Hinblick auf die Wahlbeteiligung deutlich erkennbar ist. Bei der Bundestagswahl 2017 lag die Wahlbeteiligung im so genannten Milieu der Prekären, einem Milieu der sozialen Unterschicht, um etwa 20 Prozentpunkte niedriger als die Gesamtwahlbeteiligung. Hier verlieren die etablierten Parteien zudem in dramatischer Weise an Zustimmung, während die populistische AfD genau dort ihre besten Ergebnisse erzielt.
Wie kann man der Verunsicherung begegnen, Vertrauen wiederherstellen und die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie wieder stärken? Klar ist, dass sich die längerfristig ablaufenden, gesellschaftlichen Veränderungen, die sich heute auf die demokratischen Prozesse auswirken, nicht rückgängig machen lassen. Aber die Risiken, die sich aus aktuellen Entwicklungen wie der Globalisierung und dem Klimawandel ergeben, müssen von der Politik stärker in den Blick genommen werden. Dass sich Teile der Bevölkerung von den demokratischen Akteuren und Institutionen nicht mehr repräsentiert fühlen, darf nicht einfach hingenommen werden. Sozioökonomische Ungleichheit und große Bildungsunterschiede stellen für jede Demokratie ein Problem dar, das zwar nicht völlig beseitigt werden kann, aber doch gemildert werden muss. Die Verbesserung demokratischer Strukturen und Prozesse bleibt eine ständige Aufgabe für alle. Denn trotz aller Verunsicherung: Zur Demokratie gibt es keine Alternative.
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