Für eine Dorferneuerung in den Köpfen
Im Rahmen eines Modellprojekts der Bundeszentrale für politische Bildung wurde die Idee einer „Dorferneuerung in den Köpfen“ im ländlichen Raum in Oberbayern entwickelt. Das Konzept wurde in drei unterschiedlichen dörflichen Kommunen zwischen 1.300 und 3.600 Einwohnern erprobt. Es wird in der weiteren Umsetzung im Landkreis Rosenheim derzeit von der Bildungskoordination im Landratsamt und der Ehrenamtskoordination der Caritas weiter begleitet und soll in der Erzdiözese München und Freising insgesamt weiter verankert werden. Bisher haben sich insgesamt zehn Gemeinden auf den Weg gemacht – oft ausgehend von kirchlich gebundenen Helferkreisen, die nun zunehmend den Blick auf die gesamtgesellschaftliche Integration im Dorf richten.

Bei den bisherigen Dorfgesprächen kamen die Teilnehmer miteinander ins Gespräch und es entstanden kreative Projektideen.
Auslöser des Projekts waren die Diskussionen um die vermeintliche „Spaltung der Gesellschaft“, die ganz grundsätzliche Fragen aufwarfen: wie gehen wir als dörfliche Gemeinschaft mit denjenigen um, die sich nicht in unsere Denk- und Handlungsschemata einordnen lassen? Welche Wertvorstellungen liegen dem zugrunde, was wir befürworten oder ablehnen? Wer sind „Wir“ überhaupt? Es ging also zunächst nicht um ein bestimmtes Thema oder Inhalte wie in klassischen Dorferneuerungsprozessen, sondern um die Vielfalt der Menschen und ihre Werte, die sie vor Ort vereinen oder auch in Spannungsfelder bringen.
Ländliche Vielfalt sichtbar machen
Vor Ort haben wir zunächst zwischen 20 und 40 persönliche eins-zu-eins-Gespräche geführt, um Schlüsselpersonen zu finden, die unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen des Dorfs ansprechen konnten. Im Sinne des Prinzips „Person vor Institution“ waren dies, neben klassischen Vereinsmitgliedern, beispielsweise ein Getränkemarktinhaber, ein engagierter Neuzugezogener ohne Vereinsbindung, eine alleinerziehende Mutter, eine neue Lehrerin. Diese Schlüsselpersonen wurden im nächsten Schritt eingeladen, gemeinsam Erfolgskriterien für die Dorfgespräche zu definieren und sich so mit dem Projekt selbst zu identifizieren. Der intensive Prozess der Sondierung und Einbindung der Vielfalt der Menschen vor Ort ist der unverzichtbare Schlüssel für eine breite Beteiligung an den Dorfgesprächen.
Darauf aufbauend fanden drei Dialogabende, zu denen das gesamte Dorf eingeladen war, an ungewöhnlichen Orten wie Bierzelt, Caritas-Heim für Behinderte oder Scheune statt, die als Rahmen selbst zu Neuorientierung herausforderten. Diese Abende wurden niedrigschwellig und interaktiv moderiert: durch „Speed Dating“, kurze Gruppendialoge über wichtige eigene Wertvorstellungen und Formulierungen von herausfordernden Fragen an das eigene Dorf wurden neue Begegnungen ermöglicht und andere Perspektiven im Austausch sichtbar.
Neben den für viele überraschenden und vielfältigen neuen Begegnungen entstanden auch selbstorganisierte kleinere Projekte: so setzten drei Neubürgerinnen einen von Alteingesessenen lange gehegten, aber nie verwirklichten Wunsch einer regelmäßigen „Dorfzeitung“ um. Mitarbeiterinnen eines Mutter-Kind-Heims, welches im Ort weitgehend tabuisiert war, definierten sich neu und etablierten ein Veranstaltungsprogramm mit dem Titel „Dorfmitte. Ein Helferkreis formierte sich neu als Ansprechpartner für alle Bürgerinnen und Bürgern mit einem regelmäßigen Begegnungscafé. Damit entstanden neben den konkreten Projekten auch neue Sichtweisen auf die Ressourcen des eigenen Dorfs und den produktiven Umgang mit Vielfalt.
Florian Wenzel ist selbstständiger Moderator und Prozessbegleiter im Bereich des Demokratie-Lernens. Dr. Christian Boeser ist Leiter des Netzwerks politische Bildung Bayern und akademischer Oberrat im Fachbereich Pädagogik an der Universität Augsburg. Beide Autoren bündeln ihre unterschiedlichen Projekte im Verein „interpunktionen – Wir versetzen Zeichen für Demokratie“. Sie können als Referenten zum Thema angefragt werden. Weitere Informationen unter www.gemeinde-creativ.de.
Wenzel, Florian / Boeser, Christian (2019):
Dorfgespräch. Ein Beitrag zur Demokratieentwicklung im ländlichen Raum.
Stiftung Mitarbeit (Arbeitshilfen für Selbsthilfe- und Bürgerinitiativen Nr. 53), Bonn.
Fotos: Hagen von Deylen und Dorthe Winter-Berke