Katholische Lutherbilder im Lauf der Geschichte
Martin Luther wurde 1521 exkommuniziert und gebannt, er war objektiv gesehen als Ketzer verurteilt. Doch damit waren die Probleme nicht gelöst, die theologischen Schlachten wurden weiter polemisch im Stil der Zeit geschlagen. Hartnäckigster Gegner Luthers: der Theologe Johannes Cochläus (1479-1552). Mit seinem breit angelegten Werk zu Luthers Leben und Schriften festigte er für die nächsten 450 Jahre das Bild vom Reformator als das eines lächerlichen Ketzers.
Erst im Zuge der Aufklärung und dann mit dem Vormarsch historischen Bewusstseins ab 1800 kam Bewegung in die Sache. So verglich der Tübinger Professor Johann Adam Möhler (1796-1838) die lutherisch-protestantischen mit den katholischen Bekenntnistexten. Er schätze Luthers Frömmigkeit und theologische Gedankenfülle, unterstellte Luther aber einen Hang zum Volksaufwiegeln und anmaßende Selbstüberschätzung, worin er entscheidende Ursachen für die Kirchenspaltung sah. Die katholische Perspektive blieb also klar, obgleich sich ein Wandel abzeichnete: Denn dass man sich mit Luther wieder neu und intensiver – und das über historisches Quellenstudium – beschäftigte, bereitete wichtige Weichenstellungen für die heutige Ökumene vor. Noch war es aber nicht soweit. Denn das 19. Jahrhundert prägten enorme konfessionelle Spannungen. Die deutschen Staaten waren immer mehr unter Führung des protestantischen Preußen gelangt, am Ende war im Deutschen Kaiserreich ab 1871 der berühmte bürgerliche Kulturprotestantismus vorherrschend. Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entluden sich die Spannungen erstmals, bildeten den Grundakkord für die nächsten 100 Jahre Christentumsgeschichte. Anlass war das so genannte Kölner Ereignis von 1837, also die Inhaftierung des Kölner Erzbischofs durch die preußische Staatsgewalt. Der Oberhirte hatte die preußische Mischehenregelung abgelehnt, welche die vom Trienter Konzil vorgeschriebene Ausschließlichkeit der katholischen Unterweisung der Kinder ausgehebelt hatte. Der Münchener Kirchengeschichtsprofessor Ignaz von Döllinger (1799-1890), der mit seiner Leugnung der Papstdogmen von 1870 vielen bis heute als eine Art zweiter Luther erscheint, schaltete sich in die Debatten immer wieder ein. Er schrieb etwa 1843, er habe bei der Lektüre lutherischer Schriften Vorkehrungen zu treffen, wie „wenn wir unsern Weg durch […] eine stinkende Pfütze nehmen müssen“. Neben dem konfessionellen Streit kam damals in München die Debatte um den Kniebeuge-Erlass hinzu, also ob es legitim sei, dass der König evangelischen Soldaten die Kniebeuge vor dem Allerheiligsten, etwa beim Militärgottesdienst anordnen könne.
Das Lutherbild verändert sich
Ganz anders formulierte der Ökumene-Altmeister Professor Otto Hermann Pesch (1931-2014) knapp 150 Jahre später: „Wer Luther intensiv studiert und dabei nie die Versuchung gespürt hat: ‚Hier weht die reine Luft des Evangeliums, ich muss zur lutherischen Kirche übertreten‘ – der hat Luther nicht wirklich verstanden.“ Damit reagierte er auf Kritik, wie sie der katholische Kirchenhistoriker und Trient-Forscher Hubert Jedin 1967 vorgebracht hatte: „Wer aber den ganzen Luther katholisch machen will, der wird selbst Lutheraner.“ Pesch hatte 1961 seine 1.000 Seiten starke Dissertation eingereicht, in der er die Rechtfertigungslehre bei Thomas von Aquin und Luther verglichen und bemerkt hatte: beide meinen eigentlich dasselbe, nur in unterschiedlichen Begrifflichkeiten. In diese Zeit fällt das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965). Im Ökumenismusdekret Unitatis redintegratio wird die ökumenische Bewegung als vom Heiligen Geist gewirkt anerkannt – nachdem nicht zuletzt die Konfessionen in den Verfolgungen während des Zweiten Weltkrieges zueinander gefunden hatten.
Das waren bemerkenswerte Vorzeichenwechsel. Doch was war hinsichtlich des katholischen Lutherbildes in der Zeitspanne bis dahin alles geschehen? Nachfolgend einige wichtige Stationen: Der Kirchengeschichtsprofessor Joseph Lortz wollte in den 1930/40er Jahren Luther historisch korrekt und unpolemisch aus dem 16. Jahrhundert heraus verstehen. Er schlug damit einen anderen Weg ein, wie ihn noch der Dominikaner und Vatikanarchivmitarbeiter Heinrich Denifle um 1904 gegangen war. Dessen Reformationsgeschichte war quellengesättigt, trotzdem Polemik pur: Denifle war der Meinung, Luther ganz aus der menschlichen Triebhaftigkeit erklären zu können. Wichtiger Verdienst seiner Studien immerhin: Er konnte nachweisen, dass Luther nur sehr eingeschränkt zu Thomas von Aquins Schrifttum Zugang hatte, also muss Luthers Wettern gegen diesen aus heutiger Sicht differenziert gesehen werden.
Doch zurück zu Lortz: Vor seiner Publikation zur Geschichte der Reformation zogen von Rom aus dunkle Wolken auf. Seine Hauptthese beunruhigte:
Luther habe einen Katholizismus in sich niedergerungen, der damals schon nicht mehr katholisch war, da durch den Nominalismus deformiert. Der vernichtende Blitzschlag blieb aus, so dass Lortz’ Schüler Erwin Iserloh den Weg konsequent fortsetzen konnte. Er arbeitete heraus, wie katholisch Luther war. So meinte er einmal zu Luthers erster Ablassthese, wonach Buße Umkehr des ganzen Lebens in Orientierung auf Christus, und nicht taxierbare Leistung sei, sie könne heute problemlos Motto eines Katholikentags sein. In seinen Studien ging er so gut wie auf alle Themen und Aspekte von Luthers Theologie und Wirken ein, die er in der Geistesgeschichte und Politik der Zeit verortete. Er vertrat die Ansicht, Luther habe in den Jahren 1517 bis 1521, in denen sich entscheiden sollte, ob und wie er in der Kirche bleibt, genuin katholische Anliegen vertreten; er habe nur damals in weiten kirchlichen Kreisen geteilte Missstände benannt und im Sinne der verbreiteten Reformwünsche Lösungsvorschläge gemacht, die nicht zur Kirchenspaltung hätten führen müssen. Dabei hält Iserloh auch selbstkritisch fest: seelsorglich und theologisch schlecht gebildete Kirchenleute, Bischöfe als höchste Verantwortungsträger zumal, hätten nicht das nötige Know-How und Verständnisvermögen mitgebracht, weshalb nicht oder viel zu spät reagiert wurde.
Den Wandel im katholischen Lutherbild verdeutlichen auch offizielle Verlautbarungen. Kardinal Johannes Willebrands, nach dem Zweiten Vatikanum Leiter des Päpstlichen Rats zur Förderung der Einheit der Christen, würdigte bei der Versammlung des Lutherischen Weltbundes in Evian 1970 Luthers Verdienste für die Reform der Kirche und das Christuszeugnis vollumfänglich. Und umgekehrt erkannte der Weltbund die Entzerrung des bisherigen katholischen Lutherbildes durch die Forschung an.
Willebrands Erklärung soll manche Kurialen verärgert haben. In ähnliche Richtung charakterisierte schließlich zum 500. Geburtstag des Reformators 1983 eine Stellungnahme der römisch-katholischen/lutherischen Studienkommission Martin Luther als Zeugen des Evangeliums, Lehrer im Glauben und Rufer zur geistlichen Erneuerung. So wird auch heute auf den Reformator geblickt, der immerhin von der Reformationsbeauftragten der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD), Margot Käßmann, als Reformkatholik bezeichnet wurde. Es wird deutlich: nicht nur hinsichtlich verschiedener Lehrfragen, sondern auch im Hinblick auf die Person Luthers lassen sich immer mehr Konsense erzielen – kirchenspaltend muss Luther nicht mehr zwangsläufig sein.
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