Es wurde schon viel geschrieben zur Rolle der Religion in der Demokratie. Unser Autor fragt sich, ob die Beziehung mehr eine Wahlverwandtschaft oder doch eher die eines Fremdkörpers ist.
Die Geschichte der Demokratie in Europa kann den theoretischen und empirischen Gegensatz zwischen moderner Volksherrschaft und christlicher Tradition nicht ignorieren. Dass demokratische Ideen wie Volkssouveränität und individuelle Selbstbestimmung, Tatsachen wie der gesellschaftliche Wertepluralismus und Normen wie die Trennung von Politik und Religion nicht zur herkömmlichen Vorstellung eines allmächtigen Gottes, einer allgemein verpflichtenden, überpositiven Sozialethik sowie einer machtpolitischen Relevanz der Kirchen passen, kann damals wie heute kaum überraschen. Hans Kelsen meinte einst sogar, dass jedweder philosophisch oder religiös begründete Wahrheitsanspruch die Demokratie unterminiert, da es gegenüber der Wahrheit nur eines geben könne: den unbedingten Gehorsam, fernab von demokratischen Diskussionen, Streits und Kompromissen.
Religion und Demokratie
Spätestens seit den politischen Eskalationen und moralischen Katastrophen, wie sie sich bevorzugt im 20. Jahrhundert ereigneten, wurde indes der normative Ergänzungsbedarf der Demokratie sichtbar und sind ihren Spannungsmomenten mit der Religion daher durchaus positive Effekte abzugewinnen. Hellsichtige Autoren wie Montesquieu, Rousseau, Kant oder Tocqueville hatten früh erkannt, dass die Religion gerade aufgrund ihrer gegensätzlichen Prinzipien einen konstruktiven Einfluss auf die Demokratie auszuüben vermag. Vor allem Tocquevilles berühmte Studie über die Demokratie in Amerika (1835/1840) kann hier als innovatives Zeugnis gelten, wie der evidente Gegensatz zwischen Religion und Demokratie positiv zu wenden ist. Gegen die liberale Fiktion des Religiösen als Privatsache reklamierte der französische Adelige eine zivilgesellschaftliche Rolle der christlichen Religion, um die gefährlichen Schattenseiten der demokratischen Praxis zu kompensieren: Individualismus und sozialer Atomismus, kurzsichtiger ökonomischer Erfolg statt Solidarität, Gemeinschaftsverantwortung und Nachhaltigkeit sowie Bürokratismus (der das Vakuum fehlenden Sozialkapitals füllt) und Politikverdrossenheit. Vor dem Hintergrund der institutionellen Trennung von Kirche und Staat glaubte Tocqueville, dass jene zivilgesellschaftliche Funktion der Religion das säkulare Autoritätsverständnis der modernen Demokratie nicht verletzt.
Spätere Ansätze, die die heilsame Wirkung der Religion auf die Demokratie bestätigen, bewegen sich nicht zufällig im Fahrwasser Tocquevilles. So beschrieb Robert N. Bellah die Zivilreligion in den USA als unhintergehbaren, die Diversität der Glaubensrichtungen integrierenden Wertekonsens, der auf den Dogmen der Existenz Gottes, des ewigen Lebens, der Belohnung von Tugend und der Bestrafung des Lasters aufbaut. Bellahs Buch Habits of the Heart (1985) übernimmt dabei bereits im Titel eine zentrale Denkfigur Tocquevilles, die auf die religiöse Herzensbildung als Quelle sozialen Engagements verweist. Bestätigung fand er bei Robert D. Putnam, der in seinem Buch Bowling Alone (2000) die hyperindividualisierte Gegenwart schildert, in welcher das soziale Band der Religion verloren gegangen ist.
Die Substanz des Religiösen
In Deutschland legte Niklas Luhmann seinen Fokus auf eine zivilreligiöse Mixtur aus säkularen und religiösen Wertbeständen, die er in der Tradition soziologischer Klassiker von Durkheim über Simmel bis Parsons als unerlässliche, vorpolitisch-moralische Grundlage des Gemeinwesens begriff. Hermann Lübbe verstand unter einer Zivilreligion wiederum das, was menschlicher Dispositionsfreiheit generell entzogen ist und sein soll. Wie schon bei Tocqueville avanciert das Religiöse dadurch zur Grundlage und Grenze einer politischen Freiheit, die in der säkularen Demokratie der Gefahr der Verabsolutierung unterliegt. Damit setzte Lübbe den Gedanken Ernst-Wolfgang Böckenfördes fort, der darauf pochte, dass der freiheitliche, säkulare Staat der Moderne auf Grenzziehungen durch die Religion angewiesen bleibt, um nicht in totalitäre Formen abzugleiten. Gewissermaßen umgedreht wird das bekannte ,Böckenförde-Diktum‘ bei Jürgen Habermas, dem es angesichts der heutigen Hegemonie des Säkularen nicht mehr darum geht, religiöse Akteure von der Wichtigkeit ihrer Rolle im demokratischen Staat zu überzeugen. Habermas’ Friedenspreisrede von 2001 sowie weitere Stellungnahmen zur Religion in der Folge zielen vielmehr darauf ab, die ständig wachsende Zahl der Säkularen daran zu erinnern, dass die deliberative Demokratie die Religion sowohl als motivationale Triebfeder bürgerlicher Partizipation als auch in argumentativer Hinsicht (beispielsweise im Bereich der Medizinethik) nach wie vor nicht entbehren kann. Nötig hierfür ist allerdings eine Übersetzung religiöser Dogmen und Überzeugungen in einen säkularen Argumentationsrahmen, der auch für Anders- und Nichtgläubige Verbindlichkeit entfaltet.
Hinter dem funktionalistischen Vokabular, das nahezu allen genannten Ansätzen zu eigen ist, darf die Substanz des Religiösen jedoch nicht verblassen. Heilserwartungen und Wahrheitsansprüche der Religion lassen sich nicht intendiert in den Dienst der Demokratie stellen, bleiben sie doch dem Grund nach unabhängig von wechselnden Mehrheitsverhältnissen, Modeerscheinungen und Verfahrenslegitimationen. Eine komplementäre Perspektive auf Demokratie und Religion wird deshalb um eine Betonung ihrer Gegensätzlichkeiten unverändert nicht herumkommen. Dies teilt die Religion mit anderen ihrem Anspruch nach universalen Normen wie den Menschenrechten, die zur Herrschaft des Volkes ebenso in einem dialektischen Spannungsverhältnis stehen.
Gemeinsame Stärke
Am wohl überzeugendsten hat diese konstruktive Spannung der Politologe Alfred Stepan auf einen Nenner gebracht. Sein Konzept der „Twin Tolerations“ verlangt einerseits, dass die Ergebnisse demokratischer Wahlen und Abstimmungen sowie die rechtsstaatlichen Regeln der Konfliktaustragung von Glaubensgemeinschaften nicht in Frage gestellt werden. Glaubensüberzeugungen und theologisches Wissen legitimieren keine Zwangsgewalt und entscheiden den politischen Prozess nicht vorab. Die grundsätzliche Offenheit der Demokratie, die keine einzelne Religion bevorzugt, ist daher von allen religiösen Akteuren und Ansprüchen zu tolerieren. Unter diesen Voraussetzungen, die zugleich mit der Glaubens-, Gewissens- und Meinungsfreiheit korrespondieren, ist die Demokratie im Gegenzug aber genauso wenig legitimiert, die Religion(en) in den Privatbereich zu verbannen. Das Selbstverwaltungsrecht der Religionen umfasst vielmehr die Artikulation politischer und sozialethischer Ziele, die in die Zivilgesellschaft eingebracht werden. Glaubensgemeinschaften, die ihre Stimme im Rahmen demokratischer Auseinandersetzungen erheben, sind von einem demokratischen Rechtsstaat mithin nicht nur zu dulden, sondern fließen ihrerseits aus der Logik einer pluralistischen Volksherrschaft.
Die Rolle der Religion in der Demokratie ist folglich weder als Wahlverwandtschaft noch als die eines Fremdkörpers zu bezeichnen. Denn obwohl Religion und Demokratie grundverschieden sind und höchst konträre Dinge wollen beziehungsweise legitimieren, sind sie im Zweifelsfall gemeinsam weitaus stärker als jeder für sich allein.
Illustration: Hurca! / Adobe Stock