Viele haben das Buch von Alexander Spoerl, „Die Feuerzangenbowle“ gelesen und/oder den gleichnamigen Film mit Heinz Rühmann gesehen. Ich möchte an die Eingangsszene erinnern: Die ehemaligen Schulkameraden kommen zur Feuerzangenbowle zusammen und erinnern sich wieder einmal ihrer Schulzeit, ihrer eigenartigen Pauker und ihrer lustigen Streiche. Und indem sie sich gegenseitig ihre schulische Vergangenheit erzählen, entsteht eine herzliche Atmosphäre des Vertrauens und der Gemeinschaft. Einer ist dabei, der diese Erinnerung nicht mitmachen kann, weil er einen Privatlehrer hatte und nie zur Schule gegangen ist. Er kann nicht mitreden und nicht miterzählen. Er schweigt und gehört für diese Phase des Gesprächs nicht zur heiteren Runde. Am gleichen Abend entschließt er sich, obgleich schon längst mit der Schule fertig und promovierter Schriftsteller geworden, in die Abiturklasse eines Gymnasiums zu gehen. Er will die entsprechenden Erfahrungen nachholen, deren Erinnerungen ihn in die Erinnerungs- und Vertrauensgemeinschaft der Feuerzangenbowle bringen können.
Kirchen als Räume christlicher Erinnerung
Auch die Christen und Christinnen eint eine gemeinsame Erinnerung, die sie sich – inhaltsorientierend und gemeinschaftsbildend – durch die Jahrhunderte erzählt haben und sich immer wieder erzählen: in den Familien, in den Gemeinden, in den Gottesdiensten. Es sind die Geschichten im Volk Israel. Es ist die Geschichte von Jesus von Nazareth, von seinem Leben, von seinem Tod und seiner Auferstehung. Auf dieses Erinnern und Erzählen sind wir angewiesen. Ohne diese Erinnerung gäbe es keine Kirche und kein Vertrauen auf das, was erzählt wird.
Diese Erinnerung ist Weisung, indem sie eine ganz bestimmte Weisheit aus der Vergangenheit holt, eine Weisheit, die etwas Lebenswichtiges weiß, als Zuspruch und als Anspruch. Diese Weisung beinhaltet also ein inhaltliches Hinweisen auf Gnade, Verantwortung und Notwendigkeit. Der Evangelist Johannes hat diese Erinnerung als Werk des Geistes Gottes identifiziert: „Der Paraklet aber, der Heilige Geist, den der Vater in meinem Namen senden wird, er wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe“ (Joh 14,26).
Auch, was christliches Beten ist, lässt sich nicht „erfinden“, sondern kann nur an der Praxis abgelesen werden, wie jüdische und christliche Gläubige gebetet haben und beten. Das Gebet spricht den Gott an, dessen Gesinnung aus der Erinnerung dieser Geschichten „bekannt“ ist, einschließlich der Geschichten, in denen er seine Bekanntheit verliert.
Erinnerung als Gabe vor der Aufgabe
Da sich die Erinnerung selber voraussetzt, dass der erzählte Gott zugleich der lebendige Gott der je gegenwärtigen Menschen ist, erschließt sich in den Vergangenheitsgeschichten zugleich die gegenwärtige Beziehungsgeschichte der Lebenden mit Gott: in den erzählten Begegnungsgeschichten mit Jesus (und in seinen Gleichnissen) eröffnet die Erinnerung die aktuelle Begegnung mit dem lebendigen Christus und qualifiziert diese in der Weise, wie sie erzählt wird. In dieser Begegnung wird Christus wirklich gegenwärtig, „real präsent“ erlebt.
Abgebrochene Zukunft zerbricht auch die Vergangenheit.
Dabei darf die Erinnerung nicht übersehen, dass von Gott her immer zuerst etwas, ja alles gegeben ist: Wie beispielsweise Jesus mit der als „Ehebrecherin“ angeklagten Frau in Joh 8,1-11 umgeht, wie er sie nicht verurteilt, sondern in seine Liebe aufnimmt, so geht er jetzt mit uns um, wenn wir schuldig geworden sind. Dieser Zuspruch von Sündenvergebung und Heilung, der an keine Bedingung gebunden ist, gibt die Kraft zur Umkehr in ein neues Leben hinein. Solche Erinnerung wird zur Ressource des Erwünscht- und Geliebtseins. Nur Geliebte können Mitgefühl haben und mit nahen und fernen Menschen solidarisch sein.
So dürfen biblische Geschichten, in denen vom Handeln Gottes die Rede ist, nicht einfach leistungshaft auf die Menschen umgelegt werden: Wie Gott im Hoseabuch als barmherzig vorgestellt und geglaubt wird, so sollten die Menschen miteinander umgehen. So sehr diese Auslegung stimmt, so sehr unterschlägt sie den allerersten Anteil dieser Geschichte, nämlich: Wie sich Gott in dieser Geschichte um Israel kümmert, so kümmert er sich jetzt um uns.
Soziale Voraussetzung guter Erinnerung
Eine Gymnasiallehrerin erzählt: Die Schüler und Schülerinnen der Oberstufe wollen nichts von der Erinnerung an die Geschehnisse des Nationalsozialismus wissen. Ihrer Ansicht nach wären das die Probleme ihrer Vorfahren, die diese schlecht gelöst hätten. Sie hätten ihre eigenen Probleme: „Wir haben andere Sorgen und Interessen. Ihr hinterlasst uns sowieso eine beschissene Welt: Wir sind die Opfer der Zukunft, die ihr auf dem Gewissen habt. Da brauchen wir eure Opfererinnerung nicht!“
Hier stellt sich die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen geschichtlicher Erinnerung in den heutigen Menschen als die Frage danach, inwiefern die Erinnerung etwas mit den gegenwärtigen Interessen der Menschen zu tun hat. Offensichtlich haben geschichtliche Erinnerungen nur dann eine Chance, mit den Menschen in einen ernsten Kontakt zu geraten, wenn sie etwas mit diesen Menschen, ihren Sehnsüchten und Hoffnungen selbst zu tun haben. Erinnerung kann nicht (mehr) als ein Unterwerfungsunternehmen funktionieren, sondern die Menschen sind ihrerseits in diesem Erinnerungsvorgang ernst zu nehmen. Wenn junge Menschen keine Solidarität der Verantwortlichen erleben, dann gibt es auch kein vitales Interesse mehr an der Erinnerung dieser Verantwortlichen. Abgebrochene Zukunft zerbricht auch die Vergangenheit.
Die Verantwortung der Kirchen
So befindet sich die Frage nach der Möglichkeit christlicher Erinnerung zugleich im Zentrum des Problems, welche gegenwärtigen kirchlichen Erfahrungen und Hoffnungen denn die Bedingungen für diese Erinnerung sind. Wer beispielsweise im sozialen Umgang nicht fähig ist, die Not anderer Menschen wahrzunehmen, sondern alles nur auf seine eigenen Vorteile zulaufen lässt, wird darin kaum eine Schuld erkennen können. Wir brauchen kirchliche Erinnerungsgemeinschaften, in denen die Sensibilität für Schuld an die Sensibilität für das Leid von Menschen gebunden wird. Dann erkennen wir uns umso mehr in den Geschichten christlicher Erinnerung und erfahren uns von ihr getragen und ermutigt, und von daher entsprechend in Frage gestellt.
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