Die kirchlichen Archive
Archive bilden zusammen mit den Bibliotheken und den Museen das Langzeitgedächtnis einer Gesellschaft. Im Unterschied zu den Veröffentlichungen in den Bibliotheken und zu den Kunstwerken der Museen sind ihr Metier historische Dokumente, die durch Verwaltungstätigkeit entstanden sind. Das klingt etwas „unsexy“, aber die allermeisten schriftlichen Spuren, die ein Mensch von der Wiege bis zur Bahre hinterlässt, sind genau von dieser Art.
Aufgabe der Archive ist es, solche Dokumente im Original auf Dauer sicher aufzubewahren, sie zu erschließen, zur Benutzung bereitzustellen und auch selbst auszuwerten. Die Archive machen es dadurch möglich, Menschen vergangener Epochen zu begegnen. Und sie legen mit fest, was wir künftig über die Vergangenheit wissen können (oder nicht), indem sie entscheiden, Unterlagen als historisch bedeutsam aufzubewahren (oder nicht). Nur wenn die Archivare ihre Arbeit richtig machen, kann jede Generation sich aus dem „Rohmaterial“ der Geschichte ihr eigenes Bild von der Vergangenheit machen, sei es von der der eigenen Familie, einer Gemeinde oder ganzer Länder.
Die kirchlichen Archive haben in Bayern besondere Bedeutung, besteht hier doch ein flächendeckendes Netz von Bistümern und Pfarreien mit einer bis ins Mittelalter zurück reichenden Verwaltungs- und Archivierungstradition. Entsprechend gibt es in jeder Pfarrei, in jedem Kloster und an jedem Bischofssitz ein Archiv. Jede bayerische Diözese hat ihr Diözesanarchiv als zentrale Fachstelle für das Archivwesen. Für große Teile Oberbayerns und ein Stück Niederbayerns ist das Archiv des Erzbistums München und Freising zuständig. Mit einem Archivalienbestand von mehr als sechs Regalkilometern zählt es zu den großen Kirchenarchiven Deutschlands. Vom Ende des Mittelalters bis in die 1960er Jahre reichen die historischen Dokumente, die es verwahrt und für die Forschung zugänglich macht.
Einmalige Einblicke
Hier nur eine knappe Auswahl (wie sie ähnlich in den anderen Diözesanarchiven zu finden ist): Die vom Ordinariat geführten Akten über die einzelnen Pfarreien enthalten beispielsweise Bevölkerungsstatistiken, handgezeichnete Landkarten, Kircheninventare und Berichte der Pfarrer über Religion und Sittlichkeit der ihnen anvertrauten Pfarrkinder sowie die örtlichen Schulverhältnisse. Vom Kirchenbau und seiner Finanzierung ist ebenso die Rede wie vom Inventar der Pfarrhöfe. Die historischen Beschreibungen des Bistums Freising (vom Jahr 1315 an) sowie des Erzbistums München und Freising (das 1821 um den zuvor zum Erzbistum Salzburg gehörenden Südosten Oberbayerns vergrößert wurde) liefern Grunddaten zur Geschichte nahezu jedes Ortes im Bistumsgebiet. Visitationsprotokolle geben von 1560 an ein ungeschminktes Bild des kirchlichen Lebens. Die Prozessakten in Ehesachen vor kirchlichen Gerichten und die Vernehmungsprotokolle unehelicher Mütter lassen tief hineinschauen in gesellschaftliche und (allzu)menschliche Verhältnisse. Über das Kriegsende 1945 sind Berichte der Pfarrer aus mehr als 500 Pfarreien erhalten. Eine 1946 durchgeführte Fragebogenaktion gibt ein eindrucksvolles Bild vom Leben der Katholiken unter dem NS-Regime.

Das Fenster zur Geschichte öffnet sich jetzt also auch am heimischen Computer. Hier im Bild: Taufbuch von Tegernsee, 1685.
Bedeutsam sind natürlich die Amtsakten und persönlichen Nachlässe der Erzbischöfe, die separat im Erzbischöflichen Archiv München verwahrt werden. Darunter sind die Akten des Erzbischofs Michael Kardinal von Faulhaber hervorzuheben, der in seiner langen Amtszeit (1917-1952) fast alle Umbrüche des 20. Jahrhunderts miterlebte – von der Monarchie bis zur Bundesrepublik. Sie stehen ebenso zur Erforschung zur Verfügung wie die kirchengeschichtlich hochbedeutenden Akten von Julius Kardinal Döpfner (1961-1976) zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965), zu dessen Moderatoren der Erzbischof zählte. Die Akten von Joseph Kardinal Ratzinger aus seinen Münchner Erzbischofsjahren (1977-1982) sind gemäß kirchlichem Archivrecht noch längere Zeit für die Nutzung gesperrt, doch können Fotos und Dokumentationsmaterial bereits heute ein Bild vom Wirken des späteren Papstes vermitteln.
Die meistgefragten Unterlagen in den Diözesanarchiven sind die historischen Pfarrmatrikeln, also die Tauf-, Trauungs- und Sterbebücher, die seit dem späten 16. Jahrhundert in allen Pfarreien geführt werden mussten. Diese Verzeichnisse erfassen (bis heute) die wichtigsten Daten jedes einzelnen Christenlebens, ob die der eigenen bäuerlichen Vorfahren oder die von Prominenten. Bis zur Einführung der staatlichen Standesämter 1876 waren sie die einzigen Personenstandsregister. Sie sind damit unersetzlich für die Erforschung von Lebens- und Familiengeschichten, aber auch für die Bevölkerungs- und Sozialgeschichte. In allen bayerischen Diözesen wurden deshalb die historischen Pfarrmatrikeln im Diözesanarchiv zentralisiert. In München sind es mehr als 10.000 Bände.
Für die Heimatgeschichte oft noch wichtiger als das Diözesanarchiv sind die Pfarrarchive. Ihre Überlieferung reicht nicht selten ins Mittelalter zurück und damit weiter als die vieler Stadt- und Gemeindearchive. Sie sind Eigentum der jeweiligen Kirchenstiftung, doch steht das Diözesanarchiv bei Fragen der Ordnung und Verzeichnung sowie der sachgerechten Lagerung den örtlichen Verantwortlichen (d.h. Pfarrer und Kirchenverwaltung) mit fachlichem Rat zur Seite. Auch die Übergabe des Pfarrarchivs an das Diözesanarchiv ist möglich. Ebenso ist es bei den Archiven aufgelöster Klöster, wie jüngst im Erzbistum München und Freising geschehen bei den Klosterarchiven von Altomünster, Beuerberg und der Ursulinen in Landshut.
Offene Archive
Diözesan- und Pfarrarchive stehen (natürlich unter Beachtung des Datenschutzes und anderer Vorschriften) allen Interessierten offen – ob Schüler, Hobbyforscher oder ausgewiesener Wissenschaftler und ob katholisch oder nicht. Die Archive geben Hilfestellung bei der Forschung und wenden sich auch in Publikationen, Ausstellungen, Führungen und Vorträgen an die Öffentlichkeit. Insofern ist die Aura des Geheimnisvollen, die in den Augen vieler die Archive überhaupt und insbesondere die kirchlichen umgibt, schon lange nicht mehr berechtigt.
Dies gilt umso mehr im digitalen Zeitalter, das die Archive in mehrfacher Weise betrifft. Einerseits nutzen sie für die Erfassung und Verwaltung ihrer riesigen Bestände längst Datenbanken und Fachanwendungen. Andererseits arbeitet auch die kirchliche Verwaltung mittlerweile digital; so müssen die Archive darauf vorbereitet sein, digitales Verwaltungsschriftgut auch in digitaler Form zu übernehmen, unverfälscht zu erhalten und nutzbar zu machen. Schließlich erlaubt das Internet den Archiven, ihr wertvolles Kulturgut in viel breiterem Maße als früher, ja weltweit zur Nutzung zur Verfügung zu stellen.
Wissenswert
Aus bayerischen Kirchenarchiven sind bislang vor allem Urkunden und Pfarrmatrikel über Fachportale (www.monasterium.net; www.matricula-online.eu) kostenlos zugänglich. Das Archiv des Erzbistums München und Freising geht noch weiter und will im Lauf der nächsten Jahre alle seine wichtigen Bestände online stellen. Start war am 15. Juli 2019 mit etwa vier Millionen digitalisierten Seiten. Dazu gibt es Forschungsanleitungen mit direkten Links zu den Quellen und Hilfsmitteln. Mehr dazu lesen Sie hier.
Titelbild: Die älteste Urkunde des Münchner Diözesanarchivs Archivs, ausgestellt von Bischof Otto von Freising 1147.
Fotos: Archiv des Erzbistums München und Freising