Von der Schwierigkeit, repräsentativ verfasste Demokratien mit Elementen direkter Demokratie zu verbinden
Westliche Demokratien beruhen auf zwei Legitimationsprinzipien: dem Grundsatz des Konstitutionalismus, der die Herrschenden in ihrer Machtausübung durch gewaltenhemmende Elemente beschränkt, sowie dem Grundsatz der Volkssouveränität, wonach demokratische Herrschaft immer an die Mehrheit des Volkes rückgebunden ist.
Schon aufgrund der Größe ihrer Bevölkerung und ihres Staatsgebietes sind moderne Demokratien hierzu auf Repräsentation angewiesen. Darunter versteht man die rechtlich autorisierte Ausübung von Herrschaftsfunktionen durch verfassungsmäßig bestellte Organe. Diese handeln zwar im Namen des Volkes, aber ohne bindenden Auftrag. Das Volk führt die politischen Geschäfte also nicht selbst, sondern lässt diejenigen regieren, die es über demokratische Wahlen zuvor bestimmt hat.
Im Unterschied dazu strebt eine direkte oder plebiszitäre Demokratie dadurch eine möglichst große Übereinstimmung von Regierenden und Regierten an, dass das Volk regelmäßig zu Abstimmungen aufgerufen wird, in denen es politische Fragen entweder unmittelbar selbst entscheidet oder den Repräsentanten zur Beratung vorgibt. Auch eine direkte Demokratie kann schon allein aufgrund der Zahl der zu treffenden Entscheidungen jedoch nicht auf repräsentative Elemente verzichten.
Trennung nicht immer möglich
Eine völlig trennscharfe Unterscheidung ist also nicht möglich: die Schweizer regieren sich zum einen nicht permanent selbst, und zum anderen sehen inzwischen alle deutschen Landesverfassungen die Möglichkeit höchst unterschiedlich ausgestalteter direktdemokratischer Beteiligungsformen auf Landes- und auf kommunaler Ebene vor. Im Unterschied dazu kennt das Grundgesetz mit Ausnahme der Möglichkeiten zur Neugliederung des Bundesgebietes (Art. 29 GG) sowie zur Verfassungsgebung, die das Grundgesetz als Ganzes ablösen würde (Art. 146 GG), keine Elemente direkter Demokratie.
Dass auch grundsätzlich repräsentativ verfasste Demokratien immer häufiger direktdemokratische Elemente in ihre Verfassungsordnung aufnehmen, ist auf den Wunsch einer immer besser gebildeten Bürgerschaft zurückzuführen, ihre selbstbestimmte Lebensführung auch in den Bereich des Politischen auszuweiten. Gleichzeitig betrachten Mandats- und Amtsträger die Aufnahme direktdemokratische Beteiligungsformate als Chance, Krisenerscheinungen des Parlamentarismus entgegenzuwirken. Etwa der Krise der Volksparteien sowie der Wahrnehmung, die Distanz zwischen Regierenden und Regierten sei zu groß geworden.
Beispiel Brexit
Der Versuch, beide Demokratiemodelle zu verbinden, schafft aber die nächsten Probleme: Er lässt nämlich das Dilemma aller direktdemokratischen Entscheidungen, dass das Abstimmungsvolk im Unterschied zu gewählten Volksvertretern keine Verantwortung für das übernimmt, worüber es entscheidet, in das parlamentarische System „hineinschwappen“. Das Brexit-Referendum ist ein Beispiel, dass das Einfügen direktdemokratischer Elemente in repräsentative Systeme unauflösbare Konflikte erzeugen kann: Von der Verfassung mit einem freien Mandat ausgestattete und vom Wahlvolk demokratisch legitimierte Parlamentarier werden durch die Wirkmacht einer eigentlich unverbindlichen Abstimmung in einen unauflösbaren Gegensatz zum Abstimmungsvolk manövriert.
Titelbild: Ursula Münch leitet seit 2011 die Akademie für Politische Bildung in Tutzing.
Foto: Akademie für Politische Bildung