In Fußballstadien prallen Welten aufeinander, nicht nur in sportlicher Hinsicht. Hier trifft der Götzendienst auf christlichen Glauben. Die Frage, ob Fußball als Ersatzreligion gelten kann, sie ist heftig umstritten.
Zunächst ist Fußball Kult, schreibt Joachim von Soosten: „Fußball kann, genau wie die Jagd, der Krieg, die Bürokratie und Musikkonsum, als ‚Kult‘ beschrieben werden. […]. Denn Fußball genießt Kultstatus: zumindest in bestimmten Milieus, zumindest für eine Mehrheit von Männern“. Dann zählt er eine Reihe von Ritualen und Brauchtümern der Kultform Fußball auf. Dabei definiert er Riten als Verhaltensregeln, wie man sich dem „Heiligen“ gegenüber zu verhalten habe. Zum Wesen von Riten gehört die gemeinschaftliche Durchführung, die „unter Beteiligung der Sinne periodisch erlebt, wiederholt und erneuert“ wird. Dazu zählt das „Pilgern“ zum „Fußball-Tempel“, der Blick auf den „heiligen Rasen“, Hymnen und Requieme, angestimmt von „Kantoren“, Freudentänze mit Händen und Füßen – ein Gesamtpaket, aus dem sich die Fangemeinde forme. Die Verehrung der Helden, die in „liturgischen Gewändern“ auflaufen, und mit Kindern an der Hand an den Einzug des Priesters mit den Ministranten erinnern, gehören auch dazu, wie das Bekenntnis zum Verein in Form von Farben, Fahnen und Festen.
Sind Fußballer unsere wahren Götter?
So fragte im Sommer 2002 die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) mit einer bundesweiten Aktion auf Werbewänden mit riesigen Buchstaben auf himmelblauem Hintergrund. Ziel war es, angesichts der medialen Dominanz und ökonomischen Hemmungslosigkeit des Fußballs zu provozieren und zum Nachdenken anzuregen.
Die hinter der Frage nach den „wahren Göttern“ steckende Sorge in Kirchen ist nicht neu. In Deutschland gilt sie seit dem 4. Juli 1954, jenem Tag, der im Herbst 2003 auch kineastisch zum „Wunder von Bern“ wurde. Ich selbst kam vier Monate vor dem Endspiel Deutschland gegen Ungarn zur Welt. Darum habe ich erst später die sich überschlagenden Torschreie des Radioreporters Herbert Zimmermann auf Schallplatte gehört und sein überbordendes Lob für den deutschen Torwart Toni Turek, den er zum „Fußballgott“ erhob. Ein Proteststurm der Kirchen war die Folge und Zimmermann hat sich für seinen übersteigerten Enthusiasmus später häufig entschuldigt.
Moshe Zimmermann, Professor für deutsche Geschichte an der Universität in Jerusalem, beurteilt das Geschehen im Rückblick so: „Hier hat der Reporter Zimmermann […] den Gottesbegriff im Fußball stark erweitert. Nicht mehr der bekannte, alt vertraute Gott des Christentums oder des Judentums waltet über und im Spiel, vielmehr wird der Spieler selbst zum Gott. Er ist fortan nicht nur Priester, nicht nur Verkünder der göttlichen Botschaft – er ist der handelnde Gott selbst.“ Zimmermann, der diese Aufwertung des Menschen zum Gott verurteilt, schreibt weiter: „Die Gottesbezeichnung ist für die moderne Gesellschaft hier also wieder akzeptabel geworden, nachdem der Begriff des Idols unter Vernachlässigung seines ursprünglichen religiösen Gehalts in der säkularen Zeit wohl nicht mehr ausreichte, um Vorbilder wie Fußballspieler oder ‚Filmstars‘ in eine sakrale Sphäre zu heben“.
Moshe Zimmermann erklärt auch, warum er die Vergöttlichung des Menschen verurteilt. Dazu zitiert er aus dem Buch von Fritz Walter, Kapitän der Weltmeister von 1954. Dieser schreibt über die Feier im Berliner Olympia-Stadion: „Als der Bundespräsident erwähnt, dass man Toni Turek einen ‚Fußballgott‘ genannt habe, braust der Jubel erneut los. […] Aber Professor Heuss hat es gar nicht so gemeint und noch nicht zu Ende gesprochen. Er findet die Bezeichnung ‚Gott‘ etwas übertrieben“. Moshe Zimmermann erläutert, dass Theodor Heuss offenbar die Erinnerung an Erfahrungen mit der politischen Theologie des Nationalsozialismus so abschreckend fand, dass er sich veranlasst sah, auch vor der eher harmlosen Fußball-Theologie zu warnen.
Fußball als Ersatzreligion?
Seit Jahren arbeite ich in einer dieser Arenen, in denen Götzendienst und christlicher Glaube aufeinandertreffen. Zu den Spielen pilgern Zehntausende in die „Fußballtempel“. Sie erwarten etwas vom Geschehen auf dem „Heiligen Rasen“, möglicherweise zu Augenzeugen eines Wunders zu werden, vielleicht einer Variante der Erzählung von David gegen Goliath. In jedem Fall gehen sie intensiv mit dem Geschehen auf dem Rasen mit. Der Journalist Alexandros Stefanidis schreibt im Magazin „Focus“: „Im Stadion geht es zu wie in einer Kirche: sitzen, aufstehen, singen, beten“. Aber – wollen Fußballer und will der Betreuerstab überhaupt, dass der Fußball als Religion gesehen und gar gelebt wird?
Meine Antwortet lautet: Nein. Ganz im Gegenteil. Die große Mehrheit der Aktiven sehen im Fußball nichts als ein ergebnisoffenes und darum spannendes Spiel, das in begrenzter Zeit stattfindet – und dessen Ergebnis dann zu akzeptieren ist. Für mein Fußballbuch Der Heilige Geist ist keine Schwalbe habe ich darüber ausführlich mit Sebastian Kehl gesprochen, dem ehemaligen Nationalspieler und Kapitän von Borussia Dortmund. Kehl zeigte sich immer auch als engagierter katholischer Christ. Im Gespräch sagte er: „Der Glaube spielt für mich eine große Rolle. Er hat mir sehr viel gegeben, besonders Halt in schwierigen Situationen. Mein Glaube ist für mich ein Zufluchtsort, ein Wegweiser fürs Leben“.
Für den heutigen BVB-Funktionär stellt der Fußball, der sein Leben geprägt hat, keine Religion, schon gar keine Ersatzreligion dar. Kerzen für oder das Beten um einen Sieg sieht Kehl sehr kritisch, im Blick auf Aktive und die Fan-Gemeinde. Zugleich erzählt er, dass ihm das Gebet vor Spielen wichtig war. Dabei aber ging es nie um den Sieg seiner Mannschaft: „Schließlich muss ich davon ausgehen, dass es, wenn ich um Gottes Parteilichkeit bitte, mindestens einen auf der anderen Seite gibt, der das auch tut – und für wen soll sich Gott dann entscheiden?“ Als redlichen Inhalt des Gebetes aber nennt er das Bitten, gesund und fair zu bleiben, den Respekt anderen gegenüber nicht zu verlieren und „das Spiel als Spiel zu begreifen und nicht die wichtigste Sache des Lebens daraus zu machen“.
Warum als Kirche in der Arena?
Meine Arbeit in der Frankfurter Stadionkapelle basiert auf dem Wissen, dass wir als Kirche(n) den Kontakt zu vielen Milieus unserer Gesellschaft verloren haben und neue Wege gehen müssen. Das gelingt im Stadion. Ich habe in der Arena-Kirche inzwischen zehntausende Menschen begrüßen können – Konfirmanden und Firmlinge, Lehrer-, Politiker- und Journalistengruppen, Fußballer, Mitglieder der Fangemeinde. 175 Taufen und 40 Trauungen gehören zur Arbeitsbilanz. Der Fußball öffnet dafür zwar Türen, im Zentrum der Begegnungen aber steht der Glaube.
Und Fußball legt das Gespräch über den Glauben auch nahe, erzählt er doch exemplarisch vom Leben: Von schönen Seiten, von wunderbaren Momenten – auch von Unschönem und Schmerzlichem. Er erzählt von Glück und Unglück. Von Hoffnung und von Resignation. Vom Fallen und vom Aufstehen. Von Siegen und Niederlagen.
Vom Fußball geht eine Integrationskraft aus, von der wir als Kirchen lernen können. Aber es wäre auch gut, der Fußball würde von uns Kirchen etwas über den Umgang mit dem „Foulspiel“ und nötiger Reue lernen. Der Fußball erinnert uns daran, dass uns nur begrenzte Zeit zur Verfügung steht. „Ein Spiel dauert 90 Minuten“, sagte der Alt-Bundestrainer Sepp Herberger. „Unser Leben währet 70 Jahre, wenn es hoch kommt 80 Jahre“, sagt Psalm 90. Heute können wir auch älter werden, so wie es die Nachspielzeit im Fußball gibt. Am Ende der Zeit aber steht der Abpfiff und das nicht mehr veränderbare Ergebnis. Insofern sind der Fußball und die Arena ein guter Lernort für den sportlichen Wettkampf, das Leben, den Glauben, auch ganz vitale Riten. Eine Religion aber ist der Fußball nicht, sondern nur ein faszinierendes Spiel.
Weitere Literaturhinweise zum Thema unter www.gemeinde-creativ.de.
Titelbild: Das Spielfeld, der heilige Rasen. Das Stadion, für viele Fans, ein Fußball-Tempel. Und die Spieler, ihre Idole – aber auch ihre Götter? Fußballspiele gleichen vielfach einer perfekten Inszenierung, mit erstaunlichen Parallelen zur Liturgie.
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