Unmittelbar vor seiner Verhaftung betet Jesus Christus an seinen und unseren Vater für die Einheit. Er will, dass alle eins sind, wie er und der Vater, damit die Welt glaubt, damit die Welt ihn als den Gesandten Gottes erkennt (Joh Kap. 17, bes. Vers. 21). Spaltungen und Konflikte zwischen den Menschen, die ihm folgen, würden die Glaubwürdigkeit des Evangeliums in Frage stellen. Und sie wären auch im Widerspruch zur Botschaft von einem Leben in Wahrheit und Liebe, das er selber in tiefer Einheit mit seinem Vater, mit unserem Vater, realisiert.
Sein irdisches Werk vollendet Jesus, der Erzählung des Lukas-Evangeliums gemäß, mit einer Erfahrung von Einheit. Nach seinem Tod und seiner Auferstehung erscheint er zwei seiner Jünger auf dem Weg nach Emmaus (Luk 24, 13ff). Er spricht mit ihnen, isst mit ihnen und erklärt ihnen den Sinn der Worte der Schrift über den Messias. In dieser Atmosphäre des Dialogs, des Vertrauens, des Teilens von Essen und Worten nimmt der Menschensohn Abschied von dieser Welt und wird zum Himmel emporgehoben.
Dadurch wird es klar: Die Ökumene ist kein Luxus für die Kirche. Sie ist auch etwas mehr als eine von vielen Möglichkeiten des kirchlichen Lebens. Sie ist ein Erbe, ein Gebot, ein Auftrag unseres Herrn Jesus Christus an alle Menschen, die in Gemeinschaft mit ihm sein möchten, denn wie können wir unserem Herrn authentisch begegnen, wenn wir nicht in der Lage sind, miteinander zu reden und Gemeinschaft untereinander zu stiften?
Und trotzdem zeigt die Kirchengeschichte, dass dies auch alles andere als selbstverständlich ist. Jesus hob mit Recht die Sorge um die Einheit hervor. Zweitausend Jahre christlicher Geschichte sind voll von göttlichen Geschenken, theologischen Errungenschaften, karitativen Leistungen, sie sind voll von der Schönheit der rettenden Botschaft des Gottessohnes und vom Leben unzähliger Menschen, die unglaublich wichtige Dinge im Namen des Glaubens getan haben. Diese zweitausend Jahre sind aber auch voll von Konflikten, Spaltungen, Hasstiraden, ja, voll auch von Blut, das angeblich im Namen Christi und seiner Kirche vergossen wurde. Es hat viel zu lange gedauert, bis es uns bewusst wurde, dass der Weg des Krieges nicht der Weg Christi ist; dies heißt nicht, dass alle Wunden, die im Laufe der Geschichte entstanden, bereits geheilt worden sind.
Aber es gibt die Ökumene. Wir haben schon einiges erreicht in diesen Jahrzehnten; ohne eine voreilige, selbstgefällige Zufriedenheit pflegen zu wollen, dürfen wir froh und dankbar für die bisherigen Erfolge sein.
Jesus Christus ist das Zentrum unserer Einheit und der Kompass aller ökumenischen Bestrebungen. Ihm „ist alle Vollmacht gegeben im Himmel und auf der Erde“ (Mt 28,18). Als Haupt der Kirche ist er der uns Einladende, Inspirierende, Faszinierende, Überraschende, ja, Rettende. Jesus Christus ist die Quelle des Lebens, eines angstfreien Lebens in Liebe und Wahrheit. Der Gottessohn ist nicht der Befürworter der billigen Kompromisse, er ist keiner, der den Unfrieden und die Ungerechtigkeit bejaht und befürwortet. Er ist der Prediger einer neuen Welt, einer Welt, die unsere faulen Sicherheiten immer in Frage stellt. Und was anderes ist denn die Bibel, wenn nicht die Infragestellung unserer gemütlichen Selbstverständlichkeiten? Jede Seite des Evangeliums überrascht uns: Jesus tut immer genau das, was wir nicht machen würden. Mich fasziniert Christus gerade wegen dieser seiner Unkonventionalität, wegen seiner Unzufriedenheit mit unserer Selbstzufriedenheit, wegen seines Willens, das Potenzial der Liebe im Menschen zu entfalten. Jesus Christus besiegt und überwindet die ängstlichen Konventionen und Bedingungen unseres Lebens und geht hin bis zum Ende, bis zum Tod und überwindet dieses Ende, diesen Tod. Deswegen predigen wir Jesus Christus den Gekreuzigten und Auferstandenen.
Das Leben Christi bietet die Basis des ökumenischen Ethos. Es war ein Leben in Gemeinschaft und für die Gemeinschaft sowohl mit Gott, als auch mit allen Menschen, vorrangig mit den Armen, den Schwachen, den Diskriminierten, den Bedürftigen.
Wenn die Ökumene als bürokratische Beschäftigung von Kirchenfunktionären praktiziert wird, und nicht als Ausdruck des ganzen Volkes Gottes, haben wir sicherlich etwas falsch gemacht.
Wenn Dialog der Christen bedeutet, dass wir stur, selbstgefällig, ohne zu hören, unseren Schwestern und Brüdern und allen Menschen gegenüber überhaupt bestimmte Ansichten durchsetzen wollen, dann ist dies mit Sicherheit kein christlicher Dialog.
Wenn wir im Namen der Einheit voreilige Kompromisse auf Kosten der Wahrheit in Erwägung ziehen, dann führen wir die Voraussetzungen der langfristigen Zerstörung dieser Einheit ein.
Christus beauftragt uns, einen Dialog zu führen, der von Respekt und Offenheit gekennzeichnet ist, im Bewusstsein, dass die überwältigende Wahrheit Gottes unser Vorstellungsvermögen überwindet und uns immer wieder überraschen wird. Und dieser Dialog soll die Menschen und ihre Anliegen, ihre Bedürfnisse und ihre Fragen ernst nehmen.
Noch nicht ausreichend geklärte theologische Unterschiede dürfen nicht als Alibi der Stagnation und der Bewegungslosigkeit instrumentalisiert werden, wenn Millionen keinen Zugang zu trinkbarem Wasser haben, wenn ganze Völker oder Minderheiten bedroht oder verfolgt werden, wenn unzählige Menschen in der Angst vor Armut, Ungerechtigkeit und Krieg leben. Jesus Christus ist an der Seite dieser Menschen; daher ist jeder ökumenisch sensible Christ ebenfalls an ihrer Seite. Wenn wir sie aus unserem Blick verlieren, dann verlieren wir das Zentrum und das Ziel unserer Einheit.
Illustration: Cristina Conti/Adobe Stock