Bruder Andreas Knapp ist kein Ordensmann mit klassischer Laufbahn. Er ist auf den ersten Blick nicht einmal als solcher zu erkennen, trägt er doch keinen Habit, der ihn als Anhänger einer bestimmten Gemeinschaft ausweisen würde. Bruder Andreas Knapp gehört der Gemeinschaft der „Kleinen Brüder vom Evangelium“ an. Er wohnt in Leipzig in einer Plattenbausiedlung, mitten unter Menschen, die von Kirche und Glaube kaum etwas wissen, ruhig und unaufgeregt lebt und teilt er seinen Glauben dort, wo Armut und Atheismus der Normallfall sind. In Gemeinde creativ spricht er über seinen Alltag, seine Motivation und warum es Reichtum in bitterer Armut geben kann.
Bruder Andreas, Sie haben im Jahr 2000 einen „radikalen Schritt“ getan, haben ihre Tätigkeit als Regens des Priesterseminars in Freiburg beendet und haben sich dem Orden der „Kleinen Brüder vom Evangelium“ angeschlossen – wie kam es zu dieser Entscheidung?
Von außen mag das radikal wirken, für mich aber war es nur der letzte Schritt in einem langen Entscheidungsprozess. Radikal kommt von radix, lateinisch die Wurzel – auch ich habe meine eigenen Wurzeln gespürt und bin diesem Weg gefolgt. Ich habe die Gemeinschaft der Kleinen Brüder schon viele Jahre gekannt. Ich hatte während meines Studiums die Bücher von Charles de Foucauld und von Carlo Carretto kennengelernt. Die Spiritualität von Charles de Foucauld hat mich sehr angesprochen. Die Verbundenheit zu dieser Art von Spiritualität hat mich weiter begleitet, auch in den Jahren als Diözesanpriester in Freiburg. Irgendwann war der Zeitpunkt für eine Entscheidung reif und ich habe mich der Gemeinschaft der Kleinen Brüder angeschlossen.
Die Gemeinschaft der „Kleinen Brüder vom Evangelium“ ist nicht so bekannt wie andere Orden. Was fasziniert Sie gerade an dieser Gemeinschaft?
Wir sind eine ganz kleine Gemeinschaft und deswegen ist sie nach wie vor recht unbekannt. Hier in Leipzig sind wir jetzt vier Brüder, die versuchen, wie eine kleine Zelle des Glaubens zusammen zu leben, den Alltag miteinander zu teilen, ein gemeinsames Gebetsleben zu pflegen und auf einen sehr einfachen Lebensstil zu achten. Unsere Gemeinschaft wählt bewusst Orte am Rand der Städte, am Rand der Gesellschaft. Ich lebe hier in einem Plattenbauviertel, wo vorwiegend Menschen mit einem schwierigen sozialen Hintergrund wohnen. In den letzten Jahren sind auch viele Geflüchtete in unser Viertel kommen. Gerade an solchen Orten, wo man uns nicht erwartet, wollen wir ein Zeugnis des Glaubens leben.
Bevor Sie wieder nach Deutschland gekommen sind, haben Sie in verschiedenen sozialen Brennpunkten in Paris, Neapel und in Bolivien gearbeitet. Welche Erfahrungen haben Sie dort gemacht?
Ich habe zwei Dinge in Bolivien gelernt: Gastfreundschaft und Teilen. Wir wurden von den armen Menschen dort willkommen geheißen und gut in die Dorfgemeinschaft aufgenommen. In dem Dorf lebten sehr einfache Indiobauern, aber es gab eine große Solidarität untereinander. Anfangs dachten wir, wir kommen und bringen ihnen etwas. Und dann haben wir gemerkt, dass wir viel mehr empfangen. Das war für mich eine ganz wichtige Erfahrung: Reichtum gibt es auch in der Armut. Nicht im materiellen Sinn, aber an Menschlichkeit, an Offenheit, im Teilen und Vertrauen.
Zurück in Deutschland haben Sie sich für das Leben in einer Plattenbausiedlung in Leipzig entschieden. 90 Prozent der Leute dort sind nicht getauft – warum geht ein Ordensmann gerade dort hin?
Charles de Foucauld hatte die Idee, das Evangelium dort zu leben, wo Menschen sind, die die Botschaft Jesu nicht oder kaum kennen. Das ist bis heute eine Grundlinie unserer Spiritualität. Deswegen sind wir hierher gegangen in den Osten Deutschlands, nach Leipzig und hier ganz bewusst in ein Plattenbauviertel, wo viele Menschen mit der Kirche überhaupt nichts zu tun haben, um hier einen Ort des Gebetes und des Glaubenszeugnisses zu leben.
Wie begegnen Ihnen die Menschen im Viertel?
Am Anfang mussten wir die Erfahrung machen, dass es hier doch viel Anonymität gibt. Es war gar nicht so einfach, in Kontakt zu kommen. Geholfen haben uns dann die kirchlichen Gemeinden. Wir haben hier eine sehr gute Ökumene. Zudem engagieren wir uns in verschiedenen Vereinen und Bürgerbewegungen. Da haben wir viel Offenheit erfahren, auch bei Nichtchristen.
Ihre Entscheidung für dieses Lebensumfeld, wo Christen die Minderheit sind, klingt ganz im Sinne von Papst Franziskus, der immer wieder mahnt „an die Ränder zu gehen“ – müsste die Kirche in diesen Bereichen noch aktiver werden?
Sehr viele Menschen in den Gemeinden folgen schon genau dieser Richtung. Ich denke hier an Nachbarschaftshilfen, Besuchsdienste oder Caritas-Vereine. Andererseits ist das sicherlich eine bleibende Herausforderung. Mit Blick auf unsere Gemeinden und die Frage ihrer Leitung: da wird viel über Strukturen diskutiert. Aber da dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren, wo eigentlich unser Platz ist: bei Menschen, die in Not sind.
In einem Interview haben Sie einmal gesagt, dem Deutschen Bundestag würden Sie gerne eine Predigt über die „ökologische Katastrophe“ und die „himmelschreiende Ungerechtigkeit zwischen Arm und Reich“ halten – was würden Sie den Abgeordneten sagen?
Das habe ich ein bisschen locker einfach so dahingesagt. Das ist jetzt auch schon ein paar Jahre her, aber die Themen sind nach wie vor da und nach wie vor drängend. Thema „Klimawandel“: alle haben unter diesem heißen Sommer heuer gelitten. Der Klimawandel und seine möglichen Folgen sind schon seit Jahrzehnten bekannt, das ist nichts Neues. Aber so richtig an die Wurzel des Übels hat sich bisher niemand gewagt. Das andere beherrschende Thema ist die „Migration“: Warum drängen viele Menschen nach Europa? Weil es in ihrem Heimatländern katastrophale politische Zustände gibt, weil dort eine große wirtschaftliche Ungerechtigkeit herrscht. Beide Themen haben massiv auch mit unserem Lebensstil zu tun, das wird zu oft vergessen. Wir dürfen hier nicht nur Kosmetik betreiben, wir müssen an die Substanz gehen. In einer begrenzten Welt kann man nicht unbegrenzt das Wachstum propagieren. Mit diesen Botschaften lässt sich aber nur schlecht Wahlkampf betreiben, weil man Wähler vergraulen könnte, wenn man sagt: „Wir müssen ein Stück zurück von unserem hohen Lebensniveau, weil das unser Planet nicht aushält, dass alle Menschen so viel Energie und Ressourcen verbrauchen und so viel konsumieren wie ein Durchschnittseuropäer.“
Müssen wir uns als Christen hier besonders engagieren?
Da kommt doch unsere christliche Grundbotschaft zum Zug, wir kennen Verzicht und Fasten. Und wenn wir das einbringen können, dass wir sagen, wir können einfacher leben und trotzdem glücklich sein, weil wir noch auf eine andere Hoffnung bauen und nicht nur auf materielle Erfüllung. Das wäre eine wichtige Botschaft, die wir als Christen vorleben können.
Das klingt jetzt sehr nach Laudato si‘…
Sehr gerne habe ich das aufgenommen, was der Papst in seiner Enzyklika geschrieben hat, weil es für mich genau die großen Themen unserer Zeit sind: die Gerechtigkeit, das Teilen mit den Armen, der Blick auf die nächsten Generationen und die Frage, wie wir unseren Planeten behandeln. Ich fand es sehr schön, dass er auf Franziskus und den Sonnengesang zurückgegriffen hat. Das ist auch eine ganz wichtige Wurzel für unsere Spiritualität, die mit Franz von Assisi sehr verbunden ist.
Arbeit gehört auch zu den Säulen ihrer Gemeinschaft. Sie selbst packen mit an, als Saisonarbeiter oder Packer am Fließband in einer Versandfirma – wie sieht ihr Alltag aus?
Wir versuchen, einer einfachen Arbeit nachzugehen. Ein Mitbruder arbeitet als Betreuer bei Behinderten, ein anderer holt und bringt Menschen ins Krankenhaus. Ich habe jetzt zehn Jahre als Packer am Fließband verbracht. Derzeit ist mein Schwerpunkt der Besuchsdienst im Gefängnis und bei Flüchtlingen hier im Viertel. Wir versuchen jeden Tag mit einem gemeinsamen Gebet zu beginnen. Für uns ist auch wichtig, dass jeder jeden Tag eine Stunde stille Zeit für sich hat zur Meditation oder Anbetung. Ich mache das gerne morgens, wenn es noch ganz still ist. Dann gehen wir zur Arbeit, am Abend kochen wir zusammen und essen gemeinsam. Dann ist Feier der Eucharistie.
Ihre freie Zeit nutzen Sie zum Schreiben – wie kam es dazu und können Sie uns etwas über ihre aktuellen Projekte sagen?
Ich habe immer gerne Literatur gelesen, vor allem Gedichte und moderne Lyrik. Irgendwann habe ich angefangen, selbst zu schreiben. Das hat guten Zuspruch gefunden, so dass ich in der Zwischenzeit eine Reihe von Gedichtbänden veröffentlichen konnte. Ich versuche darin meinen Glauben und meine Beziehung zu Gott zum Ausdruck zu bringen. Daneben habe ich auch über meine Erfahrungen mit den vertriebenen Christen aus dem Orient geschrieben und über den Dialog mit dem Islam.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft unserer Kirche?
Ich wünsche mir, dass viele Christen die Freude am Glauben (wieder-)entdecken, dass sie merken, da ist eine tiefe Quelle, die Freiheit und Freude schenkt. Und dass dadurch auch das Zeugnis der Christen in unserer heutigen Gesellschaft wieder sichtbar wird.
Was treibt Sie persönlich an weiterzumachen?
Zum einen ist es die tiefe Überzeugung, dass Gott mich kennt, dass er mich begleitet, dass er auch um meine Krisen und Brüche weiß und dass er mir die Treue hält. Das ist ein Fundament, das mich ermutigt weiterzugehen. Ganz konkret ist es aber auch die Erfahrung unserer Gemeinschaft. Da spüre ich auch immer wieder, dass meine Mitbrüder oder unsere Freunde mich mittragen.
Das Interview führte Alexandra Hofstätter
Zur Person:
Bruder Andreas Knapp (Jahrgang 1958) kehrte einer Karriere innerhalb der Kirche den Rücken und entschied sich für das Leben in der Gemeinschaft der „Kleinen Brüder vom Evangelium“. Die Gemeinschaft in Leipzig, in der Bruder Andreas Knapp mit seinen drei Mitbrüdern lebt, ist die einzige in ganz Deutschland. Weltweit gibt es etwa 80 „Kleine Brüder vom Evangelium“. Ganz im Sinn der drei Leitlinien des Ordens führt Andreas Knapp ein brüderliches Leben in der Gemeinschaft, lebt und arbeitet mitten unter einfachen Menschen und lebt den Glauben im gemeinsamen Gebet. Bewusst hat er sich dafür eine Plattenbausiedlung in Leipzig ausgesucht, einen sozialen Brennpunkt, mit viel fassbarer Armut, menschlichen Krisen und wenig kirchlicher Sozialisation. In seiner Freizeit schreibt er Gedichte. Viele davon sind inzwischen in Gedichtbänden veröffentlicht, so zum Beispiel „Spirituelle Auszeit in der Wüste“ (2018), „Beim Anblick eines Grashalms: Naturgedichte“ (2017) oder „Tiefer als das Meer“ (2009). In „Die letzten Christen: Flucht und Vertreibung aus dem Nahen Osten“ (2016) und „Religion als Sprengstoff?: Was man heute über Islam und Christentum wissen muss“ (2018) beschäftigt er sich mit aktuellen Fragen des Interreligiösen Dialoges.
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