Der Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Friedens- und Konfliktforschung an der Universität Augsburg ist einmalig in Bayern. Christoph Weller und seine Kolleginnen und Kollegen forschen dort zu internationalen, politischen und gesellschaftlichen Konflikten, wie sie bearbeitet und für sozialen Wandel genutzt werden können und was friedensstiftend sein kann in der Welt.
Wie ist es denn momentan um den Frieden in der Welt bestellt?
Christoph Weller: Nicht gut! Je nachdem, welche unterschiedlichen Dimensionen des Friedens wir einbeziehen wollen, ist die Entwicklung mehr oder weniger negativ. Insbesondere hinsichtlich des internationalen Friedens sind bedrohliche Entwicklungen zu beobachten: die politischen Spannungen zwischen den Großmächten wachsen, internationale Organisationen und völkerrechtliche Verträge werden geschwächt oder gar gekündigt, in vielen Regionen finden Kriege oder militärische Auseinandersetzungen statt – zum Beispiel in Syrien, Libyen, Afghanistan, Somalia, im Irak und Jemen – und das Konfliktpotenzial wächst weiter an, auch durch die weltweite wirtschaftliche Krise im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie.
Birgt die Corona-Pandemie weiteres Konfliktpotential?
Das ist an verschiedenen Stellen zu beobachten. Zum einen gibt es durch die Pandemie zusätzliche innerstaatliche Konflikte, die erhebliches Eskalationspotenzial besitzen, weil es dabei um fundamentale Werte geht: Gesundheit, möglicherweise als existenzielle Bedrohung versus individuelle Freiheiten. Dann nimmt im Zusammenhang der Corona-Pandemie der Nationalismus zu und nicht etwa die internationale Zusammenarbeit, obwohl es sich bei einer Pandemie um eine globale Bedrohung handelt, der kaum wirkungsvoll begegnet werden kann, wenn die Staaten ihr Vorgehen nicht koordinieren. Auch die Impfstoffentwicklung müsste eigentlich als globale Aufgabe betrachtet und bearbeitet werden, doch schon jetzt zeichnet sich ab, dass medizinische Maßnahmen eher denen zur Verfügung stehen werden, die entsprechende finanzielle Mittel und die „richtige“ Staatsbürgerschaft besitzen. Wie stark der Nationalismus die Humanität verdrängen kann, lässt sich leider bereits seit einigen Jahren auch in der europäischen Flüchtlingspolitik erkennen und es gibt keine Anzeichen dafür, dass dies bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie grundlegend anders werden könnte.
Ihr Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Friedens- und Konfliktforschung an der Universität Augsburg ist einmalig in Bayern; mit welchen Themen befassen Sie sich dort aktuell?
Zum einen erforschen wir die Entwicklung der Friedens- und Konfliktforschung in den vergangenen 60 Jahren in Deutschland. Der Wissenschaftsrat hat 2017/18 eine Evaluierung der deutschen Friedens- und Konfliktforschung durchgeführt und im letzten Jahr seine „Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Friedens- und Konfliktforschung“ vorgelegt. Um hier als wissenschaftliche Community die richtigen Wege einzuschlagen, müssen wir verstehen, warum sich dieses Forschungsfeld so entwickelt hat, wie es in den Spannungsfeldern von wechselnden internationalen Konfliktkonstellationen, staatlicher Förderpolitik bzw. deren Einstellung auf Initiative Bayerns Anfang der 1980er Jahre und internationalen inhaltlich-theoretischen Debatten gelaufen ist. Dazu arbeiten wir derzeit einen Forschungsantrag aus, um in den kommenden Jahren intensive Forschungen mit Archivrecherchen, Zeitzeugen-Interviews und Textanalysen der Theorieentwicklung in der Friedens- und Konfliktforschung durchführen zu können.
Unser zweites großes Projekt fokussiert auf die konstruktive Bearbeitung gesellschaftspolitischer Konflikte und die Frage, welchen Beitrag hierbei eine reflexive Wissenschaft leisten kann. Ausgehend von der Prämisse, dass soziale Konflikte unvermeidbarer Teil gesellschaftlichen Zusammenlebens und im Falle konstruktiver Bearbeitung Motoren gesellschaftlichen Wandels sind, wendet sich dieses Projekt ausgewählten Institutionen der Konfliktbearbeitung zu. Gemeinsam mit Praxis-Partnerinnen und -Partnern, die diese Institutionen mit Leben füllen, sollen im Rahmen partizipativer Forschung reflexive Ansätze gesellschaftspolitischer Konfliktbearbeitung entwickelt werden. Durch Beobachtung und Analyse der Konfliktbearbeitungsprozesse sowie der dabei gewonnenen Erfahrungen wird eine gemeinsame Reflexion der Praktiken gesellschaftspolitischer Konfliktbearbeitung ermöglicht. Dieses Vorgehen antwortet auf aktuelle Herausforderungen des gesellschaftlichen Friedens, zu denen gehört, dass etablierte Institutionen gesellschaftspolitischer Konfliktbearbeitung zunehmend unter Druck geraten; außerdem fehlen für neuartige Konfliktkonstellationen entsprechende Institutionen der Konfliktbearbeitung. Daher verfolgt dieses Projekt das Ziel, die Vielfalt an Institutionen gesellschaftspolitischer Konfliktbearbeitung sichtbar zu machen sowie die konstruktive Bearbeitung gesellschaftspolitischer Konflikte durch wechselseitige Wissenstransfers und Perspektivenwechsel zu ermöglichen.
Was ist ein „positives Konfliktverständnis“?
Wenn soziale Konflikte dort entstehen, wo zwischen Menschen und Gruppen eine Uneinigkeit artikuliert wird, kann daraus Positives oder Negatives entstehen. Gelingt es, mit der Uneinigkeit so umzugehen, dass auf keiner Seite Verletzungen oder das Gefühl, verloren zu haben, entstehen, sprechen wir von einer konstruktiven Konfliktbearbeitung. Und wenn diese durch entsprechende Institutionen gesichert ist, sind Konflikte eine positive, ja sogar wünschenswerte Sache, weil sie Entwicklungen voranbringen, Wandel in Gang setzen und uns auf neue Ideen bringen.
Welche Besonderheiten gelten für internationale Konflikte?
In der Tat gibt es zwei strukturelle Eigenschaften internationaler Konflikte, die sie von anderen sozialen Konflikten unterscheiden: einerseits gibt es eine klar begrenzte Zahl von Staaten und deren Vertreterinnen und Vertreter auf internationaler Ebene wissen: wir werden uns immer wieder und in sehr verschiedenen Konstellationen begegnen und dabei mehr oder weniger auf kooperatives Verhalten angewiesen sein. Dies fördert die internationale Kompromissbereitschaft und das Zustandekommen zwischenstaatlicher Vereinbarungen. Andererseits können die Machtunterschiede und Abhängigkeiten zwischen Staaten sehr groß sein, was guten Kompromissen im Weg steht, ebenso die Neigung vieler Regierungen, den innerstaatlichen Zustimmungswerten größere Aufmerksamkeit zu schenken als der Stärkung von Gerechtigkeit und Frieden auf internationaler Ebene.
Um Konflikte zu lösen, gibt es unterschiedliche Ansätze und Strategien – von der gewaltsamen Eskalation bis hin zum zivilen Ungehorsam. Welche Strategien sind erfolgsversprechender?
Das ist davon abhängig, in welchem Zeithorizont Sie das bewerten wollen: kurzfristig lassen sich mithilfe von Gewalt durchaus sichtbare Erfolge erzielen. Denken Sie etwa an militärische Maßnahmen zur Verhinderung eines Völkermords. Doch damit ist das Konfliktpotenzial ja nicht beseitigt, sondern eher noch erhöht worden. Langfristig ist also für das Zusammenleben etwa religiös, ethnisch oder kulturell differenter Gruppen die Etablierung geeigneter Institutionen der Konfliktbearbeitung notwendig und dieser Weg lässt sich nur beschreiten durch politische Aktionen, die keine unheilbaren Verletzungen auf der jeweils anderen Seite produzieren, also gewaltfreie Aktionen etwa des zivilen Ungehorsams oder präventive Maßnahmen, bei denen ein steigendes Konfliktpotenzial erkannt und schon frühzeitig, vor dem Eskalationsprozess, bearbeitet, Verschiedenheit anerkannt und die Verfolgung gemeinsamer Ziele in den Mittelpunkt gestellt wird.
Wie hängen für Sie die beiden Begriffe „Frieden“ und „Gerechtigkeit“ zusammen?
Das Konzept der „strukturellen Gewalt“ von Johan Galtung verbindet Frieden und Gerechtigkeit unzertrennlich, indem Frieden erst als erreicht gilt, wenn es auch keine strukturelle Gewalt mehr gibt, also Gerechtigkeit existiert. Das erscheint mir nicht sehr hilfreich, weil dadurch die Bedeutung und Abhängigkeit der einen vom anderen nicht mehr analytisch erkennbar ist. Wenn wir jedoch mit Frieden die geregelte Konfliktbearbeitung – oder genauer gesagt eine weitgehend gesicherte konstruktive Bearbeitung gesellschaftspolitischer Konflikte – bezeichnen, wirkt sich Frieden auch positiv auf die Verringerung von Ungerechtigkeiten aus. Im Frieden können diejenigen, denen Unrecht geschieht, auf diese Ungerechtigkeit hinweisen und einen Konflikt mit den Profiteurinnen und Profiteuren dieser Ungerechtigkeit anzetteln. Und die geregelte und damit konstruktive Bearbeitung dieses Konflikts ist ja die Voraussetzung für den Abbau von Ungerechtigkeit – Tarifverhandlungen sind ein gutes Beispiel hierfür. Und wenn in der Folge etwa materielle Ungerechtigkeit durch sozialen Ausgleich vermindert werden soll, sind entsprechende Maßnahmen auf die Anerkennung darauf bezogener Institutionen und deren Funktionieren angewiesen. Dies wird kaum gelingen, wenn die gesellschaftspolitische Konfliktbearbeitung ständig zum gewaltsamen Austrag eskalieren kann. Andererseits kann in extrem ungerechten Verhältnissen kein Frieden gedeihen, weil dann die Institutionen der Konfliktbearbeitung so sehr von den Privilegierten dominiert oder korrumpiert werden, dass ihre Konfliktlösungen keine ausreichend breite Anerkennung gewinnen können – was aber eine Voraussetzung für ihre Friedenswirkung ist.
Gibt es Wege, militärische Konflikte zu verhindern, bevor sie überhaupt entstehen?
Die Frage müsste besser lauten, ob es Wege gibt zu verhindern, dass Konflikte mit militärischen Mitteln ausgetragen werden. Fast alle Staaten dieser Welt – Costa Rica aber beispielsweise nicht – besitzen ein Militär, um in zwischenstaatlichen Konflikten zumindest mit dessen Einsatz drohen zu können. Auch die Sicherung der territorialen Integrität eines Staats basiert ja auf der Drohung, zur Selbstverteidigung das Militär einzusetzen. Insofern geht es bei der Verhinderung militärischen Konfliktaustrags darum, für die unvermeidlichen zwischenstaatlichen Konflikte Möglichkeiten zu schaffen, dass sie durch internationale Organisationen, Institutionen und Verträge bearbeitet werden können.
Eine Außenpolitik, die auf Friedenssicherung ausgelegt ist, wie muss die aussehen?
Eine auf Friedenssicherung abzielende Außenpolitik sollte auf militärischen Konfliktaustrag verzichten. Dies lässt sich aber langfristig nur in enger Kooperation mit vielen anderen Staaten umsetzen, weil dafür sehr umfangreiche Präventionsmaßnahmen – etwa zur Verminderung eklatanter Ungerechtigkeiten in unserer Welt – erforderlich sind, bei deren Umsetzung einzelne Staaten völlig überfordert wären.
Wie sieht es mit religiösen Konflikten aus – in der Geschichte der Menschheit gab es zahlreiche Kriege, die religiös motiviert waren. Ist Religion nun eher friedensstiftend oder doch mehr konfliktfördernd?
Beides! Die Existenz verschiedener Religionen bringt entsprechende Unterschiede zwischen Menschen und religiösen Gemeinschaften mit sich und damit ein erhebliches Konfliktpotenzial, weil die Unterschiede zentrale Fragen der Wertorientierung und Lebensführung betreffen und es bei religiösen Dogmen fast keine Kompromissmöglichkeiten gibt. Daraus entstehen zwangsläufig soziale Konflikte, für deren Bearbeitung Institutionen bereitstehen sollten und in vielen Fällen auch etabliert sind, etwa die Religionsfreiheit in Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Doch da jede Religionsgemeinschaft bereits sehr intensiv die Erfahrung gemacht hat, nicht die einzige Religion zu sein, wurden in diesem Zusammenhang in allen Religionen auch Wege entwickelt, mit dieser Verschiedenheit umzugehen. Und darauf basieren die vielen hilfreichen Beiträge von religiös motivierten Menschen oder Gemeinschaften, ihren friedensstiftenden Beitrag zur konstruktiven Bearbeitung gesellschaftspolitischer Konflikte zu leisten. In diesem Wirken sind Religionsgemeinschaften wichtige Institutionen der Konfliktbearbeitung, wovon wir nicht genug haben können.
Was kann jeder Einzelne konkret tun, um Frieden zu erhalten und zu fördern?
Mit den Konflikten, in denen man selbst Konfliktpartei ist, möglichst konstruktiv umzugehen! Das bedeutet explizit nicht, Konflikte zu vermeiden oder bei Differenzen lieber klein beizugeben, sondern Verschiedenheiten und die daraus erwachsenden sozialen Konflikte anzuerkennen und dann als Konflikte zu gestalten – was ich „bearbeiten“ nenne. Dabei stellt man sich Fragen wie: gibt es Regeln, die bei genau dieser Konfliktbearbeitung Anwendung finden könnten oder benötigen wir Hilfe, beispielsweise einen unbeteiligten Dritten, eine Mediatorin oder ein anderes Verfahren? Durch Konflikte wird die Welt verändert und zum Guten hin bewegt, insbesondere durch Lösungen, die im Prozess der Konfliktbearbeitung entstehen. Dieses kreative Potenzial von Konflikten zu nutzen erscheint mir ein wichtiger Beitrag zum Frieden, weil wir uns ja auch über die Ausgestaltung des Friedens streiten müssen. So erweitert die Bearbeitung des Konflikts um den Frieden auch unsere Friedensverständnisse – dazu sind alle eingeladen!
Christoph Weller leitet seit 2008 den Lehrstuhl für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Friedens- und Konfliktforschung an der Universität Augsburg; zuvor lehrte er Friedens- und Konfliktforschung am Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg. Er befasst sich mit Konflikt-, Friedens- und Gewaltforschung, der Wissenssoziologie internationaler Politik sowie den Methoden der Konfliktanalyse und Konfliktbearbeitung. Die deutsche Außenpolitik ist ein weiterer seiner Forschungsschwerpunkte.
Foto: Universität Augsburg
Als lesenswerte Ergänzung zum Thema ist das jährlich erscheinende „Friedensgutachten“ der vier großen deutschen Friedensforschungsinstitute sehr zu empfehlen.
In einem aktuellen Beitrag in der Zeitschrift „Wissenschaft und Frieden“ beschreibt Professor Christoph Weller den Zusammenhang zwischen einem prozessualen Friedensverständnis und geregelter, konstruktiver Konfliktbearbeitung. Der Beitrag findet sich in der Ausgabe 2/2020, S.15-18.