Wir kaufen ein und werfen weg – was zu viel war, was nicht mehr gefällt oder was das Haltbarkeitsdatum überschritten hat. In anderen Teilen der Welt fehlt es vielen Menschen am Nötigsten zu leben, sie wären froh über das, was hierzulande in der Tonne landet. Doch auch im scheinbar reichen Bayern gibt es Menschen, die arm sind und Hunger leiden – oder einfach aus der Not eine Tugend machen und einsammeln, was andere wegwerfen. Unsere Autorin hat sich mit „Müllfischern“ auf ihren nächtlichen Streifzug von Container zu Container gemacht.
Mülltonnen hatten bisher für mich keinen besonderen Charme. Nicht, dass ich besonders steril aufgewachsen wäre, aber es ist in meiner Familie einfach nicht üblich, im Abfall anderer Leute zu wühlen. Als ich bis über den Ellenbogen in der Tonne stecke, ändern sich meine Ansichten diesbezüglich radikal: Das hier ist keine stinkende, modernde Biotonne mit verfaulten Salatköpfen und schimmligen Äpfeln, sondern das reinste Schlaraffenland: in Plastik verschweißte Bio-Tomaten, Avocados, die den perfekten Reifegrad haben, um sie sofort zu essen, Spargel, Gurken, Radieschen, Blumenkohl, Erdbeeren, Heidelbeeren, Milch vor dem Ablaufdatum. Der in Plastik gehüllte Strauß Blumen kommt auch in den Rucksack, genauso wie die Packung Schokokekse für die Nachspeise. Eine wunderbare Ausbeute, weiter geht’s zur nächsten Tonne. Wir klettern über Mauern, öffnen Mülltonnenhäuschen und erkunden Hinterhöfe, um von dem, was andere wegwerfen, das mitzunehmen, was noch lange nicht auf den Müll muss – und das ist viel.
Magen oder Motor: Wir zahlen anstandslos 20 Euro für ein gutes Motoröl, aber nur 2,99 Euro für ein Speiseöl?
Von dem, was weggeworfen wird, kann man mit etwas Kreativität gut und günstig auskommen. Man muss den Speiseplan nur andersrum angehen: Es stellt sich nicht die Frage, was ich kaufen muss, um das zu kochen, worauf ich gerade Lust habe, sondern was ich aus den Dingen kochen kann, die ich gerade gefunden habe. Im Winter muss man dafür auch vor eingeschweißtem Fleisch nicht Halt machen. Denn was bei Minusgraden zwei Tage in der Tonne in der Kälte gestanden hat, ist genauso gut gelagert worden wie in der heimischen Tiefkühltruhe. Eine Kollegin schätzt die Summe ihrer „containerten“ Lebensmittel, also der Lebensmittel, die sie aus dem Abfall holt, auf monatlich ungefähr 400 Euro. An der Tonne kann sie sich auch Dinge gönnen, die sie sich an der Kasse nicht leisten könnte.
Und wenn sie das nicht isst, landet es auf der Deponie – das schlechte Gewissen hält sich also in Grenzen. Trotzdem ist das, was wir hier machen, wenn wir uns an den Mülltonnen bedienen, verboten und strafbar. Daher versteht meine Kollegin, die ihren Namen deshalb nicht genannt haben will, ihre abendlichen Tonnen-Touren vor allem als politischen Aktivismus: Den Schaden begrenzen, den unser kaputtes System anrichtet, das nur an einer Produktionssteigerung interessiert ist, aber nicht an Fairness und Qualität und dadurch derartig perverse Auswüchse zustande bringt wie diese Mülltonnen voller genießbarer Nahrungsmittel, die in anderen Teilen der Welt so dringend gebraucht würden, weil Kinder und Erwachsene auch im Jahr 2018 noch Hunger leiden müssen.
Essen ist politisch: Mit Messer und Gabel stimmen wir dreimal täglich auch ein wenig über die Zukunft der Welt ab.
Wer sich umschaut, wird aber feststellen, dass wir nicht nur mit Lebensmitteln alles andere als wertschätzend umgehen. Wir tun es auch nicht mit anderen Rohstoffen. Das neue Smartphone, die trendige Kleidung, das schicke Auto – sie alle verbrauchen Ressourcen, bei denen wir viel zu gerne vergessen, dass sie endlich und einzigartig sind. Trotzdem landet das Handy nach zwei Jahren gerne auf dem Müll, obwohl es noch gut funktioniert, weil es von einer neuen Generation abgelöst wird.
Wenn Milch billiger ist als Mineralwasser und Leberwurst billiger als Hundefutter, dann ist ein Lebensmittelsystem aus den Fugen geraten.
Walter Ulbrich, der sich seit mehr als 20 Jahren für Misereor engagiert, beschäftigt sich schon lange mit den Gründen für unsere Wegwerfgesellschaft. „Warum die Leute so unfähig sind, nur das zu kaufen, was sie wirklich brauchen? Weil sie gestresst sind.“ Für Ulbrich befindet sich unsere Gesellschaft in einer Abwärtsspirale: Weil uns die Werbung und unser Umfeld vorgaukeln, immer mehr Dinge zu brauchen, müssen wir mehr arbeiten, um sie uns leisten zu können. Dadurch haben wir immer weniger Zeit, um Dinge zu reparieren oder abzuwägen, ob eine Neuanschaffung wirklich Sinn macht, kaufen unüberlegt Neues ein und werfen Dinge weg, die noch lange nicht ausgedient haben müssten. Wir hecheln dem Ziel hinterher, das uns unsere falsche Wirtschaftsideologie vorgibt: Wachstum. „Ich bin erst wer, wenn ich mir was leisten kann“, sagt Walter Ulbrich. „Durch dieses Hetzen haben wir keine Ruhe, uns zu überlegen: Was gönnen wir uns, das uns wirklich gut tut?“
Und nicht nur uns, sondern auch den Menschen, die in die Produktion dieser Konsumgüter involviert sind und auf deren Kosten wir unseren Wohlstand bauen. Die ganze Weltwirtschaft laufe unfair, gesunde Kreisläufe würden durch die Globalisierung vollkommen verrückt, sagt Ulbrich. „Recycling funktioniert in vielen Bereichen, wie bei technischen Geräten oder Kleidung, nicht mehr.“

Repair-Cafés liegen im Trend…

…dort wird wieder flott gemacht, was geht: Uhren, Küchen- und Haushaltsgeräte, Elektrogeräte udn was sonst leicht einmal kaputt geht.
Was hingegen gut funktioniere, seien Einrichtungen wie Repair Cafés, in denen unter anderem kaputte Elektronikgeräte wieder repariert werden. Hier helfen meist ältere Bastler den jüngeren dabei, ihre Dinge wieder in Stand zu setzen. So müssen zum einen keine neuen Rohstoffe für weitere Produkte abgebaut werden, zum anderen landet das alte Gerät nicht auf dem Müll. Ganz im Sinne der Postwachstumsökonomie, die sich bewusst vom Wachstum als erstrebenswertem Ziel abgrenzt, kann hier Eigenarbeit geleistet werden. „Wir haben alle genug. Wir könnten auch nur 20 Stunden die Woche arbeiten und den Rest der Zeit dafür nutzen, Dinge zu reparieren oder zur Ruhe zu kommen“, findet Ulbrich. Im Laufe seiner Auseinandersetzung mit der Thematik hat er auch für Oikocredit gearbeitet, eine Genossenschaft für ethische Geldanlagen. „Natürlich gibt es auch Leute, die ganz radikal komplett ohne Geld leben oder nur noch eine Hand voll Dinge besitzen. Ich bin allerdings der Meinung, dass ein guter Mittelweg reicht.“
Echte Qualität bekommen wir dauerhaft nur gegen faire Bezahlung und gesellschaftliche Empathie für Erzeuger, Bäuerinnen, Bäcker, Tierzüchterinnen, Händler.
Dennoch sei besonders die Politik gefragt, bessere Umwelt- und Sozialstandards zu etablieren. Die traue sich häufig nicht, entsprechende Gesetze zu erlassen, um keine Wähler zu verprellen, daher bedürfe es einer Vorbereitung durch die Zivilbevölkerung, wie das auch beim Nichtraucherschutz ganz erfolgreich funktioniert habe. Die Bevölkerung müsse das Bedürfnis nach entsprechenden Regelungen so stark machen, dass die Regierung nicht umhin komme, sie auch einzuführen. „Als zum Beispiel der Vorschlag eines Veggie-Tages aufgekommen ist, haben ihn alle nur ausgelacht. Da muss man aufspringen und sagen: Das ist eine gute Idee.“ Und auch die Pfarrgemeinden sieht Ulbrich in der Pflicht: „Hier sehe ich aber eine gewisse Müdigkeit, sich in die Richtung zu bewegen. Außer mit dem Verkauf von fairem Kaffee nach dem Gottesdienst bringen sich die meisten Gemeinden kaum ein.“
Vielfach beschränke sich das Engagement auch auf Seiten der Kirche auf das Sammeln von Spenden. Dabei wird für Ulbrich aber das Problem von hinten aufgezäumt: „Spenden sind nur ein Brosamen, den ich von dem, was ich mir zu viel genommen habe, wieder zurückgebe, um mein Gewissen zu beruhigen. Es ist nicht radikal, wenn ich erst billig und unverantwortlich einkaufe, um dann von dem, was ich mir dabei gespart habe, zu spenden.“ Die Lösung für die Reduktion von Ungleichheit und einen nachhaltigen Umgang mit der Natur ist für ihn also ganz einfach: „Wir müssen nicht mehr geben, sondern weniger nehmen.“
Die Zitate auf diesen Seiten stammen aus der Broschüre 95 Thesen für Kopf und Bauch, herausgegeben von Misereor und Slow Food Deutschland. Sie wollen mit ihren Thesen die sozial-ökologischen Herausforderungen des globalen Ernährungssystems an die „Kirchentüre“ der Zivilgesellschaft anschlagen. Umkehr oder Sündenbekenntnisse sind von der Agrarindustrie und Lebensmittelwirtschaft kaum zu erwarten, schreiben die Initiatoren, sind aber sicher, dass die Branche auf den Druck von Verbrauchern und Zivilgesellschaft reagieren würde.
Fotos: Sarah Weiss und Edeltraud Ulbrich