Jahrzehntelange ökumenische Bemühungen – und kein bisschen weiter!? Solche und ähnliche Stimmen kann man hören, wenn es um die Bewertung der Ergebnisse in der Ökumene geht. Wer jedoch nicht nur auf äußere Erfolge schaut, sondern tiefer blickt, der wird eines Besseren belehrt. Noch im Jahr 1949 schärfte das „Heilige Offizium“, die Vorgängerbehörde der heutigen Glaubenskongregation, allen Bischöfen in einer Erklärung zur „ökumenischen Bewegung“ ein, die Gespräche genau zu kontrollieren und darüber regelmäßig nach Rom zu berichten: „Interkonfessionelle Zusammenkünfte sind somit nicht absolut verboten, sie sollen aber nicht abgehalten werden ohne vorherige Bewilligung der zuständigen kirchlichen Behörde.“
Erst auf dem Hintergrund solcher Äußerungen ist der Aufbruch zu ermessen, zu dem die Väter des Zweiten Vatikanischen Konzils fünfzehn Jahre später aufgerufen haben: „Die Einheit aller Christen wiederherstellen zu helfen ist eine der Hauptaufgaben [des Konzils].“ (Ökumenismusdekret Unitatis redintegratio, [UR] 1964) Welche Hoffnung spricht aus diesen Zeilen! Deshalb erfüllt uns zunächst einmal tiefe Dankbarkeit: Dankbarkeit gegenüber dem dreifaltigen Gott, der uns die Ökumene ins Stammbuch geschrieben hat, und Dankbarkeit für alles, was im vergangenen halben Jahrhundert im Hinblick auf die volle, sichtbare Einheit der Kirche gewachsen ist. Ich wage die Behauptung: In den letzten fünfzig Jahren sind wir ökumenisch weiter gekommen als in vierhundertfünfzig Jahren zuvor.
Dennoch müssen wir der Ehrlichkeit halber einräumen: Wir sind längst nicht am Ziel. Es gibt Streitfragen, die noch heller ausgeleuchtet und redlich geklärt werden müssen. Es gibt menschliche Spannungen, die das ökumenische Miteinander erschweren können. Es gibt auch ein falsch verstandenes Harmoniebedürfnis, das Unterschiede einebnet um des lieben Friedens willen.
In der Enzyklika Ut unum sint (1995) legte Papst Johannes Paul II eine Liste mit Themen vor, „die vertieft werden müssen, um zu einer echten Übereinstimmung im Glauben zu kommen“:
- die Beziehungen zwischen Heiliger Schrift und Tradition
- die Eucharistie mit den Fragen des Opfers und der Realpräsenz
- die Weihe als Sakrament in drei Stufen Bischofsamt, Priestertum und Diakonat
- das Lehramt der Kirche und der Petrusdienst (Papst)
- die Jungfrau und Gottesmutter Maria, Ikone der Kirche.[1]
Trotz dieser Schwierigkeiten lassen wir uns nicht entmutigen. Wir besinnen uns auf Worte des Konzils, die wir wie Samenkörner in das Erdreich der Kirche(n) legen können:
„Diejenigen, die an Christus glauben und die Taufe in der rechten Weise empfangen haben, werden in eine gewisse, wenn auch nicht vollkommene Gemeinschaft mit der katholischen Kirche gestellt.“ (UR 3)
Deshalb greifen wir gern auf, was die Päpste Johannes Paul II, Benedikt XVI und Franziskus wiederholt bekräftigt haben: „Das, was uns verbindet, ist viel stärker als das, was uns trennt.“ Alle Christen bekennen im Credo ihren Glauben an Gott den Vater, den Allmächtigen, an Jesus Christus, Gottes Sohn und Erlöser, und an den Heiligen Geist, den Tröster und Beistand. Durch das Sakrament der Taufe sind wir wiedergeboren und mit Christus vereint. Das ist die erste Klammer der Einheit, für die wir danken dürfen: Alle Christen verehren die Heilige Schrift als Gottes Wort im Menschenwort. Aus der Heiligen Schrift gewinnt ihr Leben Maß und Ziel. Auch die geistlichen Schätze verschiedener spiritueller und liturgischer Richtungen achten und bewundern wir. Gerade die Brücke zu unseren östlichen Schwestern und Brüdern kann den westlichen Traditionen neue Ufer erschließen. Es ist der Heilige Geist, der den Christen vieler Traditionen gerade in Bedrängnis und Verfolgung Mut und Stärke verliehen hat – oft bis zum Martyrium.
Diese Communio, kirchliche Gemeinschaft, reicht weit über den katholischen Tellerrand hinaus. Ihre Elemente, „die von Christus herkommen und zu ihm hinführen, gehören zu Recht zu der einzigen Kirche Christi“ (UR 3). So bedeutet Ökumene einen „Austausch von Gaben und Geschenken“, bei dem der Heilige Geist die Kirche in die ganze Wahrheit einführt (vgl. Joh 16,3). Daher möchte ich ermutigen, wann und wo möglich, miteinander zu singen und zu beten. Die offiziellen Gesangbücher, die kürzlich in unseren Kirchen neu entstanden sind, bieten dafür eine reiche ökumenische Fundgrube. Und erst 2016 haben sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche neue revidierte Bibelübersetzungen vorgelegt, die einander in der konkreten Arbeit mit der Heiligen Schrift bereichern können: die Einheitsübersetzung und die Lutherbibel.
Die Heilige Schrift
Damit sind wir beim zweiten Samenkorn für unser ökumenisches Handeln angkommen: „Das Wort Gottes in der Heiligen Schrift nimmt einen zentralen Platz im Leben der Kirche ein. Das Studium der Heiligen Schrift soll „gleichsam die Seele der Heiligen Theologie“ sein (Dogmatische Konstitution Dei Verbum [DV] 24). Wir dürfen dankbar sein, dass dieser Same schon gute ökumenische Früchte getragen hat. Dennoch bleiben gerade wir Katholiken dazu ermutigt, „das Brot des Lebens von dem einen Tisch des Wortes Gottes und des Leibes Christi zu empfangen“ (DV 21). Mögen wir uns angesichts des „wachsenden biblischen Analphabetentums“ vieler Christen wieder mehr mit dem Wort Gottes beschäftigen, es lesen und studieren, und es wie Maria im Herzen bewegen und bewahren (vgl. Lk 2,51)!
Noch ein Samenkorn möchte ich einsenken, die geistliche Ökumene: „Die Bekehrung des Herzens und die Heiligkeit des Lebens sind zusammen mit den privaten und öffentlichen Bittgebeten für die Einheit der Christen als Seele der ganzen ökumenischen Bewegung zu erachten und können zu Recht geistlicher Ökumenismus genannt werden.“ (UR 8)
Mit diesen Gedanken werden wir in den Abendmahlssaal geführt. Ut unum sint! Ökumene ist nicht Kür, wenn alles andere im kirchlichen Leben erledigt ist. Ökumene ist Pflicht, Rückkehr zum Auftrag Jesu Christi selbst. Dass Jesus seinen Wunsch nach Einheit weder in einen Lehrsatz kleidete noch als Dienstanweisung für seine Apostel ausgab, ist bezeichnend. Jesus betet um die Einheit. Einheit ist nicht nur Aufgabe, sondern zuallererst Gabe von oben, Geschenk des Himmels. Geistliche Ökumene lebt aus dem Gebet. Das Gebet um die Einheit ist der Königsweg der Ökumene.

Gelebte Ökumene auch beim 101. Katholikentag in Münster 2018: Annette Kurschus, Präses der evangelischen westfälischen Landeskirche (r.); Felix Genn, Bischof von Münster (2.v.r.); Antje Jackelen, Erzbischöfin der Schwedischen Kirche (2.v.l.) und Augoustinos griechisch-orthodoxer Metropolit von Deutschland (3.v.l.) beim ökumenischen Gottesdienst im Sankt-Paulus-Dom in Münster. Foto: KNA Bild / Harald Oppitz
Noch etwas darf nicht verschwiegen werden: Geistliche Ökumene erfordert „Bekehrung des Herzens und Heiligkeit des Lebens“ (UR 7). Erfahrungen werden wach, wie viel Schaden an der Einheit durch Stolz und Selbstsucht, durch Polemik und Ehrgeiz entstanden ist. Ökumene ist die Einladung an alle, eine ernsthafte Gewissensprüfung vorzunehmen, indem sie die eigenen Fehler erkennen und der versöhnenden Kraft des Evangeliums vertrauen. Nur auf der Grundlage ehrlicher Umkehr und der Erneuerung des Geistes werden die verletzten Bande der Einheit heilen. Dafür braucht es Zeit und die Tugend der Geduld.
Zeit der Aussat
Ein wichtiger Zwischenschritt wurde dafür im Jahr 1999 in Augsburg gesetzt durch die Unterzeichnung der gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre, die Papst Johannes Paul II einen „Meilenstein auf dem ökumenischen Weg“ nannte. Damals hörte man bei der Feier zur Unterzeichnung: „Wir haben uns die Hand gereicht, und wir lassen uns nicht mehr los.“ Die Ökumene, sie geht weiter.
Gut fünfzig Jahre nach dem Dokument Unitatis redintegratio leben wir noch immer in einer Zeit der Aussaat. Zahlreiche gute Früchte durften wir in der Zwischenzeit schon einfahren. Doch wann wir die Frucht der vollen sichtbaren Einheit ernten dürfen, bestimmen nicht wir. Deswegen setzen wir mit den Konzilsvätern „auf das Gebet Christi für die Kirche, auf die Liebe des Vaters uns gegenüber und auf die Kraft des Heiligen Geistes. ‚Die Hoffnung aber trügt nicht; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unseren Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist‘ (Röm 5,5).“ (UR 24)
Beitragsbild: Entgegengesetzte Pfeile? Die Ökumene in Deutschland will nicht in unterschiedliche Richtungen gehen. Das hat nicht zuletzt das Reformationsgedenkjahr 2017 gezeigt.
Fotos: KNA Bild