Gott mit Dir, Du Land der Bayern – so beginnt die Bayernhymne und in Artikel 142 der Bayerischen Verfassung heißt es schlicht: „Es besteht keine Staatskirche“. Die Trennung zwischen Staat und Kirche hat vor gut 100 Jahren die Regierung Eisner mit auf den Weg gebracht. Mit dem Präsidenten des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, Peter Küspert, macht sich Gemeinde creativ auf einen Streifzug durch die Verfassungsgeschichte, spricht über das Verhältnis zwischen Staat und Kirche und was Religionsfreiheit in unserer Gesellschaft bedeutet:
Gemeinde creativ: Zwischen Staat und Kirche gilt heute bundesweit das Modell der Kooperation, was verbirgt sich hinter diesem Begriff?
Peter Küspert: Die Ablehnung einer Staatskirche, die auch in der Weimarer Reichsverfassung enthalten war und vom Grundgesetz übernommen wurde, untersagt jede Form institutioneller Verklammerung von Kirche und Staat. In der Zusammenschau mit der Verbürgung der Religionsfreiheit für den Einzelnen führt dies zwangsläufig zum Gebot der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates. Es liegt auf der Hand, dass ein solches – auch dem friedlichen Zusammenleben der Bürger dienendes – Freiheitsversprechen nur eingehalten werden kann, wenn der Staat selbst darauf verzichtet, sich mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung zu identifizieren. Anders gesagt: Der Staat darf anders als die Glaubensgemeinschaften selbst die Frage nach der religiösen Wahrheit nicht beantworten.
Dennoch fordert unsere Verfassung kein streng laizistisches System wie etwa in Frankreich; weltanschaulich-religiöse Neutralität ist nicht als distanzierende, sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit fördernde Haltung zu verstehen. Im Verständnis des Bundesverfassungsgerichts ist das Verhältnis zwischen Kirchen und Staat durch wechselseitige Zugewandtheit und offene Kooperation gekennzeichnet, das heißt weniger im Sinn einer strikten Trennung, sondern eher im Sinn einer Zusammenarbeit von Staat und Kirchen auf der Basis grundrechtlicher Freiheit. Nach einem Wort von Horst Dreier versteht sich der säkulare Staat nicht als Widerpart des Glaubens, sondern bietet ihm eine Plattform. Soweit Religionsgemeinschaften in der Bayerischen Verfassung besondere Wirkungsmöglichkeiten eingeräumt werden, ist dies Ausdruck der historisch tief verwurzelten religiösen Bindung und bringt zugleich die aus der Tradition der christlich-abendländischen Kultur hervorgegangene Werteprägung der Verfassung zur Geltung.
Der besondere rechtliche Status der Religionsgemeinschaften ist immer wieder Anlass für Kritik – worauf begründet er sich?
Historisch gesehen war der schon in der Paulskirchenverfassung angelegte Sonderstatus der Religionsgesellschaften die politische Konsequenz der Absage an die bis dahin durch Territorialherren ausgeübte staatliche Kirchenhoheit. Als Legitimation wichtiger ist ein Gedanke, den neben anderen Professor Hans Nawiasky geäußert hat, der als einer der wichtigsten Väter der Bayerischen Verfassung von 1946 gilt. Er hat ausgeführt: „In betontem Gegensatz zur Missachtung, ja sogar Verfolgung, welcher die Religion, ihre Bekenner und ihre Diener unter dem Nationalsozialismus ausgesetzt waren, werden nunmehr die in der Religion und in den Religionsgemeinschaften vorhandenen sittlichen und moralischen Kräfte als wertvolle Bestandteile für den geistigen und sittlichen Wiederaufbau des Staates gewertet und anerkannt, unter den Schutz der Verfassung gestellt und dadurch mit den stärksten Rechtsgarantien ausgestattet.“
Braucht es diesen Sonderstatus noch in einer immer säkularer werdenden Welt und kann er in einer solchen auch weiterhin Bestand haben?
Wenn wir am Konzept unserer wertegeprägten Verfassung festhalten, zu dem es meines Erachtens nach keine Alternative gibt, dann liegt es jedenfalls nicht fern, Religionsgemeinschaften, die diesen Wertekanon im Kern vertreten, gesellschaftliche Wirkungs- und Teilhabemöglichkeiten zu sichern. Das ist aber eine Frage, die der (Verfassungs-)Gesetzgeber beantworten muss. Jedenfalls sehen sowohl das Grundgesetz als auch die Bayerische Verfassung einen besonderen Schutz der Religionsgemeinschaften vor; allein eine zunehmende Säkularisierung ändert daran nichts.
Man sagt oft: der Staat lebt vom Engagement seiner Bürger. Wie wichtig sind aus Ihrer Sicht engagierte Gläubige für ein funktionierendes Gemeinwohl und was ginge dem Staat verloren, gäbe es diese engagierten Männer und Frauen nicht mehr?
Engagierte Bürgerinnen und Bürger sind für eine funktionierende Demokratie unverzichtbar. In den letzten Jahren geraten in Europa und auf der Welt demokratische und rechtsstaatliche Grundsätze, die wir lange für selbstverständlich gehalten haben, leider zunehmend in Gefahr. Auch in Deutschland können wir das in Ansätzen beobachten. Dem müssen sich nicht nur die staatlichen Institutionen – beispielsweise die unabhängigen Gerichte – entgegenstellen, sondern vor allem auch die Menschen selbst. Nach meiner Erfahrung aus dem persönlichen Bereich begründet für Viele der christliche Glaube ein Wertefundament, auf dessen Grundlage sie dann auch demokratische und rechtsstaatliche Grundsätze verteidigen, wie die Menschenwürde, persönliche Freiheiten oder den Schutz von Minderheiten.
Es gibt immer wieder Stimmen, wonach Religion demokratiefeindlich und gar demokratiegefährdend sei, und es wird versucht, sie aus der Öffentlichkeit zu verdrängen. Braucht Religion Ihrer Ansicht nach auch weiterhin einen Platz in der Öffentlichkeit?
Religion an sich ist in meinen Augen weder demokratiefeindlich noch demokratiefreundlich. Es kommt immer auf die Religion an und wie sie im konkreten Fall verstanden und gelebt wird. Doch da Religion noch immer viele Menschen bewegt und häufig auch Antworten auf ethische und gesellschaftliche Fragen bereithält, wird ihre Bedeutung als gesellschaftliche Orientierungsinstanz in einer immer vielschichtiger und unübersichtlicher werdenden Welt zwangsläufig wachsen. Klar ist aber auch, dass Kirchen, Religionsgemeinschaften oder weltanschauliche Vereinigungen elementare Grundlagen des freiheitlichen Verfassungsstaates nicht angreifen dürfen und dafür schon gar keinen staatlichen Schutz beanspruchen dürfen, selbst wenn die jeweilige Glaubenslehre dies gebieten sollte.
Religionsfreiheit ist ein Begriff mit vielen Facetten. Wie würden Sie die Grenzen von positiver und negativer Religionsfreiheit definieren?
In Artikel 107 der Bayerischen Verfassung heißt es insbesondere: „Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist gewährleistet.“ und „Die ungestörte Religionsausübung steht unter staatlichem Schutz.“ Die Glaubens- und Gewissensfreiheit schützt nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs nicht nur die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, sondern auch die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten. Davon sind nicht nur die eigentlichen kultischen Handlungen umfasst (also zum Beispiel das Gebet oder der Besuch eines Gottesdienstes); geschützt ist vielmehr das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und sein Leben in Übereinstimmung mit diesen Lehren zu führen. Umgekehrt ist aber niemand gezwungen, überhaupt oder auf eine bestimmte Weise zu glauben oder entsprechende Handlungen vorzunehmen. Wichtig ist, dass bei der Ausübung der (positiven und negativen) Glaubens- und Religionsfreiheit auch widerstreitende Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte zu berücksichtigen sind. Man kann also nicht jede Handlung dadurch rechtfertigen, dass man sich auf seine positive oder negative Religionsfreiheit beruft. In Konfliktfällen, wie sie beispielsweise in Schulen auftreten können, müssen widerstreitende (Grund-)Rechtspositionen zu einem schonenden Ausgleich gebracht werden.

Der Justizpalast in der Münchner Innenstadt ist auch Sitz des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs.
Wo sehen Sie aktuell die größten Herausforderungen in der Beziehung zwischen Staat und Kirche?
Ich sehe derzeit jedenfalls in Bezug auf die beiden großen Kirchen und die israelitischen Kultusgemeinden keine fundamentalen Konflikte zwischen Staat und Kirche, gewiss auch als Folge des durch Staatsverträge geregelten Kooperationsverhältnisses. Mir scheint, dass im Wesentlichen respektvoll miteinander umgegangen wird, auch wenn es bisweilen unterschiedliche Ansichten gibt. Was die Justiz beschäftigt, sind nach meiner Einschätzung eher spezielle Fragen, die zwar wichtig sind, aber keine grundlegende Neuausrichtung des Verhältnisses erfordern, wie das Kirchenasyl oder arbeitsrechtliche Fragen bei kirchlichen Arbeitgebern. Eine wichtiger werdende Zukunftsfrage ist es, ob und wie es gelingt, die sehr viel heterogener strukturierten islamischen Glaubensgemeinschaften in das Kooperationsmodell einzubeziehen.
Werteneutralität kann es in einer staatlichen Gemeinschaft nicht geben. Wie kann trotzdem die weltanschauliche Neutralität gewahrt werden?
Weder das Grundgesetz noch die Bayerische Verfassung sind wertneutral und wollen es auch nicht sein. Werte, wie die Achtung der Würde des Menschen, die Gleichberechtigung von Frauen und Männern, die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie, um nur einige zu nennen, sind fundamental für unsere staatliche Gemeinschaft. Um sich hinter solchen Werten zu versammeln, muss man weder Christ sein noch überhaupt einer Religion anhängen. Umgekehrt müssen Religionen nicht zwingend allen Werten des freiheitlichen Verfassungsstaates verpflichtet sein. Einen Widerspruch zwischen der Werteorientierung des Staates und seiner religiös-weltanschaulichen Neutralität sehe ich daher nicht.
Dürfen Religionsgemeinschaften der Politik ins Gewissen reden? Wie weit darf oder soll sich Kirche in staatliche Belange einmischen?
Die großen Religionsgemeinschaften haben in meinen Augen eine doppelte Legitimität, sich einzumischen. Zum einen repräsentieren sie noch immer eine große Zahl von Mitgliedern, die zugleich Staatsbürger sind. Um es etwas flapsig zu sagen: Wenn der ADAC sich in die Politik einbringt, warum sollten es die Kirchen nicht tun? Zum anderen beschäftigen sich die Religionen in der Regel intensiv nicht nur mit spirituellen, sondern gerade auch mit ethischen Fragen. Dass solche ethischen Aspekte in die Politik eingebracht und dort Teil der Diskussion werden, scheint mir eine Bereicherung für den Staat zu sein. Wenn es beispielsweise um den staatlichen Umgang mit Flüchtlingen, um Gentechnologie, Organspenden oder den Klimaschutz geht, kann es doch nur hilfreich sein, die Position der Religionsgemeinschaften zu kennen und in die Überlegungen einzubeziehen.
Und in welchen Fällen darf oder muss sich der Staat auch in kirchliche Belange einmischen?
Ich meine, dass Anregungen und Kritik in beide Richtungen möglich sein sollten. Der Staat muss im Rahmen seines Gewaltmonopols sicherstellen, dass die Schranken der allgemein gültigen Gesetze von allen Bürgerinnen und Bürgern sowie von allen Organisationen gleichermaßen beachtet werden. Wenn es um staatliche Eingriffe geht, müssen natürlich die engen Grenzen beachtet werden, die durch die Verfassung gesetzt sind.
Was schätzen Sie persönlich an der katholischen Kirche?
Ich halte sie neben ihrer spirituellen Rolle auch als Impulsgeberin der Gesellschaft in ethischen Fragen für sehr wichtig. Und ich habe großen Respekt davor, wie in den caritativen Organisationen und in den Pfarrgemeinden christliche Nächstenliebe gelebt wird.
Peter Küspert (Jahrgang 1955) ist ein deutscher Richter.
Seit März 2015 ist er Präsident des Oberlandesgerichts München und des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes, davor war er von 2011 bis 2015 Präsident des Oberlandesgerichts Nürnberg.
2017 erhielt er die Bayerische Verfassungsmedaille in Silber.
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