Als das sieht sich der Autor Titus Müller – was er findet, gibt er in seinen Romanen weiter. Sie sind Reisen in die Vergangenheit, in Jahrhunderte voll Elend und Seuchen, Kriegen und Schwertern. Sie erzählen aber auch von Aufbrüchen, neuen Erfahrungen, Erfindungen und dem Glauben an die Zukunft. Wer zwischen den Zeilen liest, wird seinen eigenen Alltag hinterher neu erleben. Mit Gemeinde creativ spricht Titus Müller über seinen Weg zum Autoren und warum historische Romane wichtig gegen das Vergessen sind.
Gemeinde creativ: Ganz spontan, Ihre schönste Kindheitserinnerung?
Titus Müller: Mein erstes selbstgekauftes Buch – „Wolfsblut“ von Jack London. Auch an die Büchereibesuche mit meiner Mutter habe ich viele schöne Erinnerungen. Wir Kinder durften immer fünf Bücher ausleihen, das war wie Schätze nach Hause tragen. Die Auswahl ist mir schon damals nicht leicht gefallen, am liebsten hätte ich sie einfach alle mitgenommen und gelesen.
Wann haben Sie beschlossen, Ihren ersten Roman zu schreiben?
Mit zwölf bekam ich eine Schreibmaschine geschenkt. Auf der habe ich als Jugendlicher Abenteuergeschichten getippt, aber ich habe in dem Alter noch nicht daran gedacht, Buchautor zu werden. Geologie, Indianer oder Hieroglyphen haben mich genauso begeistert – meine Interessen wechselten öfter. Das Schreiben allerdings kehrte immer wieder, mit 17 waren es Gedichte, mit 20 habe ich meinen ersten Roman begonnen.
Wurde der bereits veröffentlicht?
Ja. Ich habe bei einem Berliner Schreibwettbewerb mitgemacht, den ich allerdings nicht gewonnen habe. Gelohnt hat es sich trotzdem: Im Publikum saß Alexander Fest, der kurz darauf die Leitung des Rowohlt Verlags übernahm, und er bot mir den ersten Verlagsvertrag an.
Worum ging es in Ihrem Debutroman?
Der Kalligraph des Bischofs handelt von Bischof Claudius von Turin, der ziemlich verrückte Ansichten hatte für seine Zeit. Wenn man so will, hat er den Bildersturm vorweggenommen. Er hat in den Kirchen seiner Diözese Bildnisse, Figuren und andere Kunstobjekte zerstört, was die Menschen schockierte. In seine Zeit fallen auch Auseinandersetzungen mit den Sarazenen (ursprünglich ein Volksstamm aus Nordafrika, im Mittelalter Bezeichnung für alle islamischen Völker im Mittelmeerraum, Anmerkung der Redaktion). Er hat wohl an manchen Schlachten persönlich teilgenommen. Ich habe seine Schriften gelesen, darin wirkt er wie ein Suchender, ein bisschen aus der Zeit gefallen, wenn man so will. Dann ist da natürlich auch die Frage, ob ein Bischof in den Krieg ziehen sollte – auch wenn das für die Zeit üblich war, wie passt es zusammen mit dem christlichen Gebot „Du sollst nicht töten“? Darüber diskutieren meine Romanfiguren. Gleichzeitig sind seine Briefe so humorvoll, dass man heute noch darüber lachen kann. Diese Dinge fand ich unglaublich spannend und habe ihm daher meinen ersten Roman gewidmet.
Das klingt, als kommt in Ihren Romanen auch immer wieder der Historiker durch?
So gut ich kann, arbeite ich eng am historischen Material: Handschriften, Briefwechsel, Gerichtsakten. Das fühlt sich ein bisschen an wie damals als Kind in der Bibliothek, wie eine Schatzsuche, weil man nie genau weiß, worauf man stößt. Ich liebe es zum Beispiel, hundert Jahre alte Zeitungen zu lesen. Für meine Romane, die im 20. Jahrhundert spielen, stoße ich darin immer wieder auf spannende Details. Allein schon die Werbeanzeigen vermitteln einen intimen Einblick in die Zeit. Andere Entdeckungen begegnen mir zufällig. Ich bin ein wilder, ungezähmter Leser, der sich querbeet für vieles interessiert und begeistern kann. Nicht alles davon werde ich irgendwo verwenden können, aber das spielt keine Rolle, weil ich ja auch für mich persönlich Erkenntnisse daraus gewinne. Besonders schön ist es auch, wenn ich mit Zeitzeugen noch persönlich sprechen kann.
Für Ihre Romane suchen Sie historische Themen aus, was reizt Sie daran?
Es hilft mir, über das Heute zu staunen und manches wieder bewusster zu erleben und neue Blickwinkel auf die Welt zu entdecken. Ich habe einmal einen Text aus dem 10. Jahrhundert gelesen von jemandem, der zum ersten Mal in seinem Leben eine Banane aß und das so beschrieben hat: „Eine Frucht in der Form einer Gurke, aber wenn sie geschält wird, ist das Innere der Wassermelone nicht unähnlich, nur von feinerem Geschmack und köstlicher.“ Wenn ich so etwas lese, dann schmeckt die nächste Banane ganz anders.
In der Schule finden viele Schüler Geschichte staubtrocken und „von gestern“. Wie war das bei Ihnen?
Ich hatte gute Lehrer und musste nicht nur Zahlen und Fakten pauken, sondern es wurde viel Wert auf Alltagsgeschichte gelegt. In meinen Romanen versuche ich immer, solchen kleinen, vielleicht unscheinbaren Begebenheiten des Alltags Raum zu geben und freue mich, wenn die Leser ihren eigenen Alltag auch wieder bewusster erleben und vielleicht dankbarer sein können für all die Annehmlichkeiten, die wir heute für selbstverständlich halten – vom vollen Supermarktregal bis zur Fußbodenheizung. Wir vergessen so schnell, wie es bei uns noch vor 50 oder 75 Jahren aussah.
Eine spezielle „Lieblingsepoche“ scheint es nicht zu geben – vom Mittelalter bis zur jüngeren deutschen Vergangenheit ist in Ihren Büchern alles dabei…
Das stimmt, eine Lieblingsepoche habe ich nicht. Ich langweile mich schnell und bin sehr neugierig, so dass ich immer Neues, Unbekanntes kennenlernen möchte. Für den Rechercheaufwand ist das natürlich eher kontraproduktiv, weil ich da immer wieder bei null anfangen muss…
In „Der Tag X“ finden sich auch autobiografische Elemente aus Ihrer Kindheit…
Ich bin lange nach den Hauptereignissen des Romans geboren, aber es war eben immer noch DDR. Im Buch gibt es eine Szene, in der eine Abiturientin in einem Schauprozess von der Schule geworfen wird, weil sie zur Jungen Gemeinde, einer kirchlichen Jugendorganisation, gehört. Auch für mich war klar, dass ich kein Abitur würde machen können, weil ich Pastorensohn bin. Da ging es in der DDR nicht um gute Noten, sondern um die „richtige“ politische Einstellung. Obwohl ich ein guter Schüler war, war ich unserer Klassenlehrerin suspekt. Morgens war oft eine Diskussion über Politisches angesetzt. Meldete ich mich, sah sie durch mich hindurch, als wäre ich nicht da. Meine Weltsicht und mein Glaube waren nicht erwünscht, das hat man mich spüren lassen.
Mein Freund Mathias, der Pionierleiter war, musste einmal meinen Schulranzen durchsuchen, er kam mit zwei starken Jungs, als fürchte er, ich könnte mich wehren, und entschuldige sich mit ernstem Gesicht, bevor er zur Tat schritt. Wir waren danach weiter befreundet; ich wusste ja, er tat nur, was von ihm erwartet wurde. Aber wir sprachen nie über die Sache.
Einmal habe ich erlebt, wie Pionierfunktionäre, Lehrer und Eltern zu Gericht saßen über einen Mitschüler aus meiner Klasse. Unser Klassenraum war zum Gerichtssaal umgebaut: Vorn saßen die Erwachsenen wie Richter und Schöffen, der Angeklagte hatte in der Mitte des Raumes allein an einem Tisch zu sitzen, wir anderen saßen als Publikum hinten und an den Rändern. Ich erinnere mich an den Jungen als starken Kerl, vor dem wir alle Respekt hatten. Die Erwachsenen nahmen ihn aber derart in die Mangel, dass er am Ende mit tränenüberströmtem Gesicht dasaß. Ihrem scharfen Verhör war er nicht gewachsen gewesen. Ein Schulgericht wie zu Beginn meines Romans »Der Tag X« ist mir erspart geblieben, das war vor meiner Zeit. Aber ich kann mich in diese Situation hineinfühlen.
In „Nachtauge“ beschreiben Sie die Schrecken des Zweiten Weltkriegs. Ist es wichtig, sich auch heute noch – 70 Jahre später – mit diesen Themen auseinander zu setzen, müssen wir uns erinnern?
Ja, das müssen wir, weil wir keine Wiederholung haben wollen. Ich glaube, dass manche aktuellen populistischen und nationalistischen Strömungen nur solchen Nährboden finden können, weil die meisten von uns keine Erinnerung an einen Krieg haben. Wir dürfen nie wieder an diesem Punkt kommen, an dem manche Menschen als „wertvoller“ angesehen werden als andere. Ausgrenzung und Abschottung erscheinen heute wieder attraktiv, das macht mir Sorgen. Wenn der Austausch fehlt – der gerade für junge Leute wichtig ist, denken wir nur an die Erasmus-Programme der Universitäten – dann verfällt man leicht der Angst vor allem Fremden.
In „Die Stimme des Schöpfers“ haben Sie Geschichten aus dem Alten Testament neu erzählt – wie sind Sie auf diese Idee gekommen?
Viele Passagen der Bibel kennt man in- und auswendig, was bei mir dazu führt, dass ich innerlich abschalte und nicht mehr so aufmerksam bin, wie ich eigentlich sein will. Ich will mit den ausgewählten Texten in diesem Buch altbekannte Bibelstellen in einer neuen Erzählung präsentieren. Sich da reinzudenken und reinzufühlen hat mir auch persönlich gut getan.
Titus Müller, geboren 1977 in Leipzig, stellt ungelesene Bücher nie ins Regal und lernt bei seinen Recherchen, den eigenen Alltag neu zu erleben und dankbar zu sein für die kleinen Dinge, die das Leben lebenswert machen. Er hat in Berlin Literatur, Mittelalterliche Geschichte, Publizistik und Kommunikationswissenschaften studiert. Mit 21 Jahren gründete er die Literaturzeitschrift „Federwelt“. Er zählt inzwischen zu den bekanntesten deutschen Autoren historischer Romane, ist Mitglied des PEN-Clubs und wurde unter anderem mit dem C.S. Lewis-Preis und dem Sir-Walter-Scott-Preis ausgezeichnet. Im Herbst 2016 erhielt er den Homer-Preis.
Fotos: Sandra Frick