Corona hat uns gezeigt, was geht und was nicht mehr geht. Auf die anfängliche Schockstarre folgten kreative Innovationen in vielen Bereichen. Echtem Umdenken war man so nah wie schon lange nicht mehr. Die Erfahrungen der vergangenen Monate dürfen jedoch nicht in einer Schublade verschwinden, sondern müssen uns als Gesellschaft in die Zukunft führen.
Was war dieses 2020 nur für ein Jahr? Und wer hätte, als vor ziemlich genau einem Jahr die ersten Meldungen dieses neuartigen Virus aus Wuhan die Runde machten, geglaubt, dass Corona heute noch immer unseren Alltag so beherrschen würde? Hand auf’s Herz – wir haben doch damals alle gedacht: ach, das wird wie bei Sars 2002 oder Mers 2012, ein paar Wochen und der ganze Spuk wäre vorbei. Und außerdem, China, das erschien uns so unendlich weit weg. Nun, wir alle wissen, es kam dieses Mal ganz anders. Dieses Mal ist es nicht gelungen, die Verbreitung einzudämmen. Aus dem scheinbar lokalen Corona-Ausbruch in Wuhan wurde eine Epidemie und schließlich eine Pandemie, die seit gut einem Jahr die Welt in Atem hält – oder besser gesagt: ihr den Atem nimmt.
Zurück zur Ausgangsfrage – was war 2020 für ein Jahr, aber noch viel entscheidender: was wird von diesem Jahr bleiben? Was werden wir in zehn Jahren über diese Zeit denken, woran werden wir uns erinnern? Was unseren Kindern und Enkeln erzählen? Was wird bleiben, von all den kreativen und innovativen Ideen und was wird schnell wieder verschwinden, weil es eben doch nur aus der Not geboren war und nicht für einen „normalen“ Alltag taugt?
Die Welt nach Corona – wenn es denn eine solche geben wird – kann und darf nicht dieselbe sein, wie die davor. Schonungslos hat dieses Virus uns die Schwächen unseres Wirtschaftens und unseres eigenen Lebensstils aufgezeigt. Im Gegensatz zu Sars konnte sich Corona auch nur so schnell und so effektiv verbreiten, weil die Welt seit 2002 noch viel enger zusammengerückt ist, viel mobiler ist und viel vernetzter. Wir alle kennen die Animationen der Karten, die zeigen, wie sich Corona auf der Welt und in einzelnen Ländern ausgebreitet hat. Ein Flackern in orange, rot und dunkelrot. In Windeseile war das Virus aber nicht nur in dichtbesiedelten Regionen angekommen, sondern auch auf kleinen Inselgruppen und in den entlegenen Dörfern der Indigenen im brasilianischen Regenwald. Etwas, das noch Wochen vorher kaum vorstellbar gewesen ist.
Und dann, die Notbremse. Der Lockdown. Stillstand. Die Straßen – leer. Der Himmel – frei von Kondensstreifen. Menschen – auf Abstand. Die Grenzen – dicht. Es war fast gespenstisch, Anfang April 2020 durch die Münchner Innenstadt zu laufen, keinem Menschen zu begegnen und gleichzeitig zum ersten Mal zu hören, dass in manchen Passagen Musik aus Lautsprechern klingt. In der Stille der Corona-Pandemie war zu hören, was sonst vom Großstadtlärm verschluckt wird.
In den vergangenen Monaten war viel die Rede davon, dass in jeder Krise immer auch eine Chance stecke – so gelte es, die Herausforderungen der Corona-Pandemie in Chancen zu wandeln. Das mag richtig sein, aber es erfordert eine ganze Portion Mut und Weitsicht. Von der Politik. Von der Wirtschaft. Von uns allen. Corona hat die Stellschrauben freigespült, an denen wir jetzt drehen müssen. Es ist an uns, Hand dran zu legen und (endlich) notwendige Veränderungsprozesse einzuleiten.
Klatschen alleine reicht nicht!
Das fängt beim Gesundheitssystem an. Zu Beginn der Pandemie wurde für Pflegekräfte geklatscht. Schnell war klar: Klatschen alleine reicht nicht. Es braucht mehr Personal, eine bessere Bezahlung und auch mehr Wertschätzung für diese Berufe. Weitere Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen sind hoffentlich nachhaltig vom Tisch. Was passiert, wenn an den falschen Enden gespart und das Gesundheitssystem reinem Effizienzdenken unterworfen wird, das konnte man an Nachbarländern wie Italien oder Großbritannien sehen.
Außerdem gilt es, den Weg frei zu machen für eine echte öko-soziale Transformation. Auf teils hässliche Art und Weise hat uns die Corona-Pandemie Schieflagen in Wirtschaft und Gesellschaft vor Augen geführt, die zweifelsfrei schon lange vor der Pandemie existiert haben, die sich durch die neuartige Situation jedoch weiter verschärft haben. Sie hat uns Schattenseiten gezeigt: die Abhängigkeiten einer global vernetzten Wirtschaftswelt zum Beispiel oder wie ungleich Bildungschancen tatsächlich verteilt sind, wenn die Teilnahme am „Homeschooling“ plötzlich davon abhing, ob es in der Familie dafür ausreichend Laptops oder Tablets gab. Aber auch, wie weit die Welt von der in Laudato si‘ geforderten „universalen Solidariät“ (LS 14) noch entfernt ist.
In alledem hat die Krise uns aber auch Möglichkeiten und Wege in die Zukunft aufgezeigt. Eine der großen Chancen liegt in der Digitalisierung – das gilt auch für die Kirche. Während der Corona-Krise sind vielerorts kreative, digitale Angebote gewachsen, die sicherlich auch für die Zeit nach der Krise wichtig und hilfreich sein können. Neue, online-basierte Formate der Erwachsenenbildung erreichen viel mehr Menschen daheim in ihren Wohnzimmern als live vor Ort in einem Bildungshaus. In Firmen hat man gelernt, dass Homeoffice tatsächlich funktioniert und die Produktivität dabei nicht sinkt. Außerdem haben wir gelernt, dass wir für eine Besprechung von zwei Stunden nicht quer durch die Republik fahren und für eine Tagung nicht nach Shanghai fliegen müssen – all das geht bequem per Videokonferenz. Umwelt und Klima danken es uns!
Darüber darf jedoch nicht vergessen werden, dass der Mensch ein Gegenüber braucht. Ergo: Digitalität kann helfen, sie kann überbrücken, sie kann aber eine echte Kommunikation und Mensch-zu-Mensch-Angebote auf Dauer nicht ersetzen.
Eine Wirtschaft der Zukunft muss sich mehr an sozialen Aspekten orientieren, so dass alle Menschen im Sinn eines buen vivir gut miteinander leben können. Dazu gehören auch eine Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe sowie ein Lieferkettengesetz, das Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern faire Löhne und ein gutes Auskommen ermöglicht. Der massive Corona-Ausbruch bei Tönnies und die folgenden Diskussionen um bessere Arbeits- und Unterbringungsbedingungen für die Arbeiter solcher Fabriken wird nur Konsequenzen haben, wenn wir endlich aufhören, im Supermarkt nach den immer billigsten Schnäppchen zu jagen, und wenn wir stattdessen anfangen, lokale Lebensmittelerzeuger zu stärken.
Alles ist miteinander verbunden
Wie selten zuvor hat die Corona-Pandemie erfahrbar werden lassen, dass die ganze Welt miteinander verbunden ist: wir Menschen sind trotz aller Technik und Verwaltung immer noch Lebewesen. Wir sind verwundbare Organismen – gerade der „Wohlstands-Westen“ hat das schmerzlich zur Kenntnis nehmen müssen. Wir sind trotz aller technischen Errungenschaften endlich und nur in Verbindung mit unserer Mitwelt überlebensfähig. In diesem System hat alles seinen Platz und Wert – auch Urwälder und Brachzeiten. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zeigen uns die Kraft der Solidarität und der Unterbrechung. Sie zeigen ebenso schonungslos die sozialen und ökonomischen Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten und wo noch Entwicklungspotenziale für eine gerechtere Weltgestaltung liegen. Sie zeigen uns, dass weniger Mobilität, Konsum oder Terminstress Raum für anderes Denken geben und an der inneren Haltung arbeiten lassen, dass wir nicht alles separat und linear sehen, sondern verbunden und vielfältig und einzigartig schön.
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