„Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert!“
Hat Jesus das wirklich gesagt? Wer den biblischen Vers aus Mt 10,34 liest, muss irritiert sein. Fordert Jesus nicht gleichzeitig: Liebt eure Feinde und haltet auch die andere Wange hin? (vgl. Mt 5,39; Lk 6,29) Wie passen diese so unterschiedlichen Facetten zusammen? Hat er sich im Lauf seines Lebens radikalisiert, bis er mit knapp dreißig Jahren als Staatsfeind hingerichtet wird? Er ist diesem Tod nicht ausgewichen. Das ist sicher eine radikale Haltung. Wie radikal war Jesus während seines kurzen Lebens?
Im Blick auf das ganze Leben Jesu zeigen sich überraschend viele „radikale Aspekte“. Schon bei den Erzählungen über seine Geburt und Zeugung fängt das an. Denn zwei von vier Evangelien erzählen so gut wie nichts von den menschlichen Anfängen Jesu, sondern springen schnell in die Zeit des erwachsenen Jesus (vgl. Markus und Johannes). Die beiden anderen Evangelien (Lukas und Matthäus) erzählen von Zeugung, Geburt und Kindheit. Das tun sie allerdings so unterschiedlich, dass die Texte als literarische und vor allem theologische Bildungen und nicht als historische Zeugnisse gelesen werden müssen. Einig sind sich diese beiden Erzählungen aber in der geistgewirkten Zeugung Jesu. Tatsächlich ist diese Vorstellung von der Geburt durch die Jungfrau Maria wohl der radikalste Ausdruck, um einen Menschen ganz von Gott her zu deuten.
Unabhängig davon, was man von der Geburt und der Kindheit Jesu historisch sagen kann, an einem Punkt ist sich die Forschung einig: Der erwachsene Jesus hat sich nicht nur eng mit seinem Vater verbunden gefühlt, sondern er war davon überzeugt, dass mit ihm, in seiner Person, das Reich Gottes nahe gekommen ist. „Wenn ich aber die Dämonen durch den Finger Gottes austreibe, dann ist doch das Reich Gottes schon zu euch gekommen“ (Lk 11,20). Das ist einer der wenigen Sätze, die allgemein auf den historischen Jesus zurückgeführt werden. Der Neutestamentler Rudolf Hoppe hat das so ausgedrückt: Himmlische und irdische Realität kommen in der Person Jesu als Heilserfahrung zusammen.
Der radikalste Konflikt: Gott oder Satan?
Nicht nur Jesus, sondern auch seine Zeitgenossen gehen von einem grundsätzlich dualistischen Weltbild aus. Neben der guten Macht Gottes gibt es chaotische, dämonische und lebensfeindliche Mächte. Die Welt steht vor einer Art „endzeitlichem Entscheidungskampf“ und wird danach die endgültige Durchsetzung von Gottes Herrschaft in einer „neuen Erde und einem neuen Himmel“ erleben. Diese grundsätzlich apokalyptische Weltsicht spiegeln auch die Evangelien: Wenn Jesus auf dem See oder besser auf dem galiläischen Meer mit göttlichem Wort den Kräften von Wind und Wellen Einhalt gebietet, dann zeigt sich seine Herrschaft über die Chaosmacht des Todes (vgl. Mk 4,15-41 par.). Wenn die Dämonen ins Meer stürzen, kehren sie also genau dahin zurück, wo sie hingehören (Mk 5,1-20 par.). Wenn die Dämonen wissen, wer Jesus ist, wenn Jesus Tote erweckt und schließlich selbst von Gott zum Leben erweckt wird, dann zeigt sich darin: Gott hat die Todesmächte besiegt. Zur neuen Erde und dem neuen Himmel gehört dann folgerichtig nach Offb 21,1 auch kein Meer mehr.
Vielleicht ist das alles nicht ganz kompatibel mit unserer heutigen Weltsicht. Dennoch: Jesus stellt sich mit seiner Botschaft und seinem Wirken mitten in den grundlegendsten Konflikt der Welt. Er ist der Held, der mit Gott gegen den Satan kämpft, ganz auf der Seite des Guten, auf jeden Fall für das Leben. Radikaler und grundlegender geht es nicht.
Radikale Feindesliebe
Aus diesem Grundkonflikt lässt sich auch die Forderung nach der Feindesliebe neu beleuchten: Ganz auf der Seite Gottes zu stehen, heißt auch: Gott wird sich durchsetzen. Alle Bosheit und Gegnerschaft ist letztlich ein Aufbäumen des Dämonischen in der Welt. Das kann nur grundsätzlich – radikal von der Wurzel her – besiegt werden. Ein sich Einlassen auf einen Austausch von Aggressionen würde nur die Gegenkraft stärken und Gottes Sieg verzögern oder es wäre ein sinnloser Kampf gegen schon Besiegte. Deshalb befiehlt Jesus bei seiner Verhaftung dem Petrus: Steck dein Schwert in die Scheide! (Mt 26,52 par.) Aus diesem Grund fordert Jesus beim letzten Abendmahl nach Joh 13,27 Judas direkt dazu auf, seine Tat zu vollbringen. Judas ist letztlich ein Werkzeug in Gottes Hand, ein Auslöser, um die Welt endgültig zu erlösen.
Radikal sozial
Ein weiterer Bereich, in dem alle Evangelien einig sind und doch unterschiedliche Nuancen finden, sind Fragen nach sozialem Status, nach Macht und Herrschaftsverhältnissen. Ganz offensichtlich lebten die ersten Christen in einer Art egalitären Gemeinschaft – das war zumindest das Ideal, an das schon Paulus immer mal erinnern musste (vgl. 1 Kor 11,17-34). Alle erfüllt die Hoffnung: „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr seid einer in Christus Jesus.“ (Gal 3,27-28).
Die Evangelien treiben diese Egalität noch auf die Spitze (vgl. Mk 10,13-16 par.): „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder …!“ Diejenigen, die noch nichts vorzuweisen haben, die abhängig sind von anderen, die Hilfe, Schutz, Ernährung und Erziehung benötigen, gerade die werden zum Vorbild.
Radikal menschlich
Da Jesus in allem Gottes Geschenk für die Menschen erkennt, interpretiert er auch die Gebote der Tora entsprechend. Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht umgekehrt (vgl. Mk 2,27). Die Frage nach den Ehepartnern im Himmel beantwortet er einfach mit deren engelhaftem – eben nicht mehr irdischen – Dasein (Mk 12,18-27 par.). Die gesamte religiöse Tradition steht für Jesus unter der Forderung der Menschlichkeit: im Zweifel lieber Barmherzigkeit als Opfer (vgl. Mt 9,13 in Aufnahme von Hos 6,6), lieber Zuwendung als Gottesdienst – so würde Jesus argumentieren.
Jesus fastet, er betet nächtelang, er ist mit seinen Freunden unterwegs, er berührt und er diskutiert, er trinkt und isst, er weint und jubelt. Er war radikal menschlich – und genau darin göttlich.
Radikale Entscheidungen

Jesus wirft Hädler und Geldwechsler aus dem Tempel in Jerusalem – seine schroffe und kompromisslose Art mag den Leser manchmal überraschen. Seine radikalen Entscheidungen machen deutlich: Jeder muss im Leben Entscheidungen treffen, das geht nicht immer ohne Konflikt.
Häufig irritiert die kompromisslose Haltung, die Jesus in vielen Situationen zeigt. Er geht schonungslos gegen seine Gegner vor: „Ihr getünchten Gräber, … ihr Nattern, ihr Schlangenbrut“ (Mt 23,33). Und meistens überlesen wir gern seine schonungslose Kritik am Reichtum (Mk 10,25 par). Wir haben uns gewöhnt an seine Aktion der Tempelreinigung (vgl. Mk 11,15-19 par.), an seine schroffe Antwort in Mt 8,22: „Lass die Toten ihre Toten begraben!“ und ebenso an seinen harschen Umgang mit seiner Familie (Mk 3,31-35). In seinem Urteil ist Jesus kompromisslos. So wird vielleicht auch die Rede vom Schwert (vgl. Mt 10,34) verständlich. Man muss sich entscheiden und das kann Konflikte provozieren. Ja, wer immer sich biblisch inspiriert zur Nachfolge entscheidet, könnte eintreten in eine radikal neue Weltsicht. Eine Weltsicht, die Gottes heilsame Nähe glaubt, sieht und lebt. Eine Lebensgemeinschaft, in der die bisherigen Regeln und Werte nicht mehr gelten. Das funktioniert vielleicht nur im Kontext einer wirklichen Naherwartung des Gottesreiches. Spätestens seit der zweiten Generation müssen wir uns als Christen mit der Verzögerung des Gottesreiches oder zumindest dessen scheinbaren Unsichtbarkeit angesichts der Realitäten der Welt auseinandersetzen. Wir leben in der Spannung von schon und noch nicht der göttlichen Wirklichkeit. Wir leben im Bewusstsein der Erlösung und erleben uns doch (noch) nicht heil. Radikal im Sinne Jesu wäre, sich jederzeit als erlöst, geliebt, gewollt, berufen wahrzunehmen. So glauben zu können, würde sicher manches (im) Leben verändern.
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