Athen und Jerusalem bilden seit der Antike eine symbolische Differenz universaler Ansprüche. Die eine Stadt steht für Idealität durch argumentativ vernünftig betriebene Philosophie ein, die andere für eine alle anderen abschließende Offenbarung durch gläubige Unterwerfung. Mit der ersten Linie lässt sich Volks-, mit der anderen Religionsherrschaft entwickeln.
Athen ebnet den Weg zur Demokratie, Jerusalem bietet Theokratie an. Beide Herrschaften können sich jeweils in sich selbst versteifen und bilden dann großflächige Disziplinarregimes aus. Dann räumen sie ihre Kritiker mit aller Macht aus dem Weg. Das haben ein Philosoph mit scharfer Kritik an einer zum Dialog unfähigen Volksherrschaft wie Sokrates und ein Prediger mit scharfer Kritik an einer durch ein Imperium korrumpierte Tempelherrschaft wie Jesus mit dem Leben bezahlt.
Die Herrschaftslogiken der idealisierten Volksherrschaft und der geoffenbarten Religionsherrschaft können sich als religiös einheitlich formierter Staat verbinden, aber auch aufeinander losgehen, wenn Allmacht lockt. Im imperialen Rom wurde beides durchgespielt. Vor Kaiser Konstantin setzte ein idealisiertes römisches Volk eine imperiale Herrschaft über andere Völker durch, die es als Barbaren ansah. Die Christen widerstanden mit der Kraft ihrer eigenen theokratischen Idealität. Mit Konstantin wurde diese verfemte Alternative zur staatlichen Norm. Und das Christentum setzte als rechtgläubige Kirche, in Ost und West zur einzigen für den Staat akzeptablen wahren Religion aufgestiegen, seinen alleinigen Heilsanspruch gegen andere Glaubensweisen durch.
Das bestand bei allen folgenden Verlagerungen des Imperiums in das christliche Abendland fort. Lediglich für die eigene Freiheit war die Kirche bereit, sich gegen eine feudale Majorisierung durch den Staat aufzulehnen, aber weder Leibeigene noch Andersgläubige profitierten davon. Staat, einzig wahre Religion und homogenes christliches Volk wurden bis weit in die Neuzeit hinein identifiziert und als vor Gott höher stehende Civitas Dei nach außen gegen Juden, Muslime sowie nach 1492 Eingeborene auf allen anderen Kontinenten in Stellung gebracht und nach innen mittels Höllenangst, Inquisition und disziplinierender Pastoralmacht abgesichert.
Mit Vernunft gegen die Macht
Mit der Reformation riss die Formel an der schwächsten Stelle auf, dem einheitlichen christlichen Volk. Staat und Religion allein konnten das nicht kompensieren und wüteten stattdessen mit reinem Macchiavellismus, um die Souveränität des jeweils wahren christlichen Staates allen aufzuzwingen, die denominational anders waren. Die verheerenden Auswirkungen dieser extremen Bürgerkriege ließen die Vernunft gegen die Macht aufbegehren. Mit dem Westfälischen Frieden wurde 1648 die Formel gefunden, dass Staat und Religion keine einheitliche Gewalt bilden dürfen, so dass ihre religiös angefachte Souveränitätsanmaßung Andersgläubigen nicht länger aufgezwungen werden kann. Ein von Aufklärung befeuerter Staat begann das Religionsrecht des Individuums gegen den Zugriff anderer zu schützen; er gewährte Toleranz und relativierte die Kirchen. Das trug nicht unerheblich zur wirtschaftlichen Dynamik bei jenen Völkern bei, die die theokratische Logik der möglichst vollständigen Beherrschung der Individuen hinter sich ließen. England und seine nordamerikanischen Kolonien, die Niederlande, aber auch Preußen unter Friedrich dem Großen sind Beispiele dafür. Weiterhin theokratisch infizierte Staaten wie Spanien, Frankreich, Österreich, das osmanische Imperium oder Russland fielen zurück. Jede restaurative Revanche für ein religiös homogenes Staatsvolk scheiterte sowohl an der Dekadenz der dafür nötigen Regimes wie später an der gesellschaftlichen Dynamik der Industrialisierung.
Religionsfreiheit ist Menschenrecht
Insbesondere der Katholizismus hat weltweit durch gesellschaftlichen und kulturellen Abstieg für den Revanchismus seiner klerikalen Elite zugunsten eines religiös aufgeladenen Staates büßen müssen. Erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurde er fähig, sich positiv auf die unauflösbare Spannung zwischen Religion und Staat einzustellen, die ihre strikte Trennung voraussetzt. Durch die beiden Revolutionen in Frankreich und den USA war sie als auf Dauer gestellter Normalfall etabliert worden. Gewaltenteilung, Menschenrechte und eine Nation vor dem Gesetz gleicher Bürger ersetzen jede religiös geeinte Volksidealität. Durch Kolonialismus, Weltkriege, Zusammenbruch des Kommunismus, dessen Atheismus eine frappierenden Familienähnlichkeit zur Theokratie aufweist, und Globalisierung sind mittlerweile so gut wie alle Kulturen der Menschheit in eine sich wechselseitig relativierende Spannung von Staat und Religion hineingenommen.
Auch oligarchisch, diktatorisch und autoritär beherrschte Staaten wie Saudi Arabien, Iran, Türkei oder China müssen sich gegen theokratisch ausgerichtetes Aufbegehren wehren, obwohl sie die Trennung von Staat und Religion verweigern. Theokratie bleibt als Utopie für islamistische Terrorstaaten wirksam oder dient einem christianistisch angelegten Rechtspopulismus zur Ausgrenzung muslimischer Zuwanderung. Mit dem christlichen Abendland ist daher kein Staat mehr zu machen, der sich als Demokratie organisiert; denn in ihr wird Religionsfreiheit nicht bloß gewährt, sondern als dem Staat übergeordnetes Menschenrecht garantiert. Keine einzige wahre Religion hat in der Demokratie einen legitimen Herrschaftsraum. Nur wer Religion negativ wie positiv frei gibt, kann Demokratie wagen.
Dienst am Menschen
Athen hat also über Jerusalem gesiegt und Rom hat als Alternative ausgespielt. Kann man also auf öffentliche Religion in säkularen Demokratien verzichten? Das kann deshalb nicht gelingen, weil die Volksherrschaft seit Athen den Webfehler der Idealisierung mit sich trägt. Demokratie ist nicht nur ständig vom Scheitern bedroht, sondern auf vielen gesellschaftlichen Feldern hoch defizitär, wie derzeit die Tribalisierung von Herrschaft in den USA und im Brexit-Großbritannien offenbaren. Sie ist alles andere als ideal. Religionen, die sich von der gefährdeten Würde des Menschen betreffen lassen, besetzen daher einen wichtigen Ort im Gegenüber zu idealisierter Macht. Sie können zu einer Stimme für jene werden, die den Preis für das Scheitern staatlicher Herrschaft zahlen, wenn sie das unabhängig vom Glaubensbekenntnis dieser Menschen tun.
Religionsgemeinschaften können daher nicht sagen, wohin die Reise für einen Staat gehen soll, aber sie können sehr wohl deutlich machen, wofür Macht nicht taugt und wofür sie nicht gut ist. Dafür müssen sie sich selbst auf die humane Würde ihrer Zeitgenossen hin relativieren, die ständig gefährdet ist, nicht respektiert zu werden. Dass dabei Theokratie auf der Strecke bleibt, ist mehr als nur gut; denn sie ist eine bösartige Versuchung, die Un- und Andersgläubige verfolgen muss. Es hebt Religionsgemeinschaften unter allen anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren heraus, wenn sie diese ihre ureigene Versuchung in sich selbst und gegen andere bestehen. Sie leisten allen Menschen einen Dienst, weil sie diese ermächtigen, ihren Griff nach Macht nur demokratisch auszuhandeln.
Titelbild: Ipopba / Adobe Stock