Durch die Corona-Pandemie verwandelt sich jeder Mitmensch in ein Risiko: einen potentiellen Überträger der Krankheit. Insbesondere für ältere Menschen sowie für Menschen mit Vorerkrankungen kann die Nähe anderer Menschen lebensbedrohlich sein. „Social distancing“ heißt das Gebot der Stunde, und zwar paradoxer Weise gerade aus Rücksichtnahme.
Solidarität durch Distanz also. Zahllose ältere Mitbürger leiden jedoch darunter, dass sie fast gefängnisartig weggesperrt werden. Auch wenn dies in bester Absicht und mit guten Gründen geschieht, können Isolation und der coronabedingte Shutdown in hohem Maße verletzend wirken. Wenn wir einander im öffentlichen Raum nur noch mit Schutzmasken begegnen, verändert dies auch das kollektive Bewusstsein.
„Systemrelevante“ Berufe erhalten Begünstigungen, beispielsweise hinsichtlich der Möglichkeit, früher als andere das Geschäft zu öffnen, oder hinsichtlich der Kinderbetreuung, wenn die Eltern arbeiten müssen.
„Was Solidarität und Gerechtigkeit in der Corona-Krise bedeuten, muss neu ausbuchstabiert werden.“
Es ist fast unmöglich, die Kriterien für Unterstützungsleistungen in der Krisenzeit gerecht zu definieren. Wer, wie Baumärkte, Autoindustrie, Lufthansa, Agrarbetriebe oder die Fußballbrache über eine gut organisierte Lobby verfügt, hat bessere Chancen auf Lockerungen oder steuerfinanzierte Solidarleistungen zur Überbrückung der coronabedingten Verdienstausfälle. Nicht ganz zu Unrecht protestieren viele Menschen aus dem Kulturbereich, dass sie unverhältnismäßig stark von allen Verdienstmöglichkeiten ausgeschlossen sind und kaum Zugang zu den Ausgleichszahlungen haben. Obdachlose waren in der Zeit des Lockdown fast völlig von jedem Lebensunterhalt abgeschnitten. Von ihnen hat kaum jemand Notiz genommen. Was Solidarität und Gerechtigkeit in der Corona-Krise bedeuten, muss neu ausbuchstabiert werden.
Die Probleme von morgen im Blick
Mit den enormen Summen an Überbrückungs- und Konjunkturhilfen werden langfristige Weichen gestellt. Eine systemische Herausforderung ist dabei, mit den Transferzahlungen nicht die Strukturen von gestern zu unterstützen, sondern die Krise für eine Transformation zu nutzen. Der Wiederaufbau sollte aus Solidarität mit kommenden Generationen als Umbau gestaltet werden, und zwar so, dass die Resilienz gegenüber künftigen Krisen erhöht wird. Solidarität in der Corona-Krise bedeutet auch, die Zukunft einzuschließen und nicht nach kurzfristigen Problemlösungen zu streben, die die Probleme von morgen erzeugen. Die Wirtschaft einfach wieder nach den bekannten Mustern hochzufahren, wäre hochgradig unsolidarisch gegenüber all denen, die jetzt und künftig beispielsweise unter dem Klimawandel und der Ressourcenverschwendung leiden. Absehbar werden finanzielle Mittel für Investitionen beim Umbau des Energiesystems und dem europäischen Green Deal fehlen. Hier sind schwiege Abwägungen zwischen unterschiedlichen Solidaritätspflichten zu treffen.
Die Corona-Krise hat gezeigt: Wir können die Welt verändern. Die enorme Entschlusskraft für Konjunkturprogramme, damit Wirtschaft und Gesellschaft nicht in der Krise zerfallen, weckt Hoffnungen. Nun gilt es, diese für Transformationen zugunsten von Resilienz und Klimaverträglichkeit zu nutzen. Die Krise hat eine neue Nachdenklichkeit in Bezug auf Lebensstile erzeugt. Sie war ein gesellschaftliches Experiment radikaler Entschleunigung. Die Digitalisierung ist beispielsweise beim Homeschooling oder an den Universitäten und bei Kongressen rasant vorangekommen. Die drastische Reduktion des CO2-Ausstoßes ermöglicht besser das Erreichen von Klimaschutzzielen, wenn sie nicht nur als „Delle“ einzigartig bleibt, sondern auch imstande ist, Alternativen für später aufzuzeigen. Mitten in der Krise ist für nicht wenige eine Kultur der Muße, der Erreichbarkeit, der stabilitas loci und der familiären Nähe gewachsen. Die Familien haben mit der Doppelbelastung von Kinderbetreuung und Homeoffice aber auch unverhältnismäßig hohe Lasten zu tragen.
Chancen jetzt nutzen
Nachhaltigkeit, verstanden als die systemische Integration sozialer, ökologischer und ökonomischer Entwicklungen, kann für die Lösung der vielfältigen Zielkonflikte beim Wiederaufbau entscheidende Horizonterweiterungen anbieten. Sie ist kein Luxusdiskurs für bessere Zeiten, sondern Change-Management mit dem Ziel, die Gesellschaft widerstandsfähiger und krisenrobuster zu machen. Einen solchen Weg zu gehen, erfordert Problemhierarchien in komplexen Systemen einschätzen zu lernen und bei den Entscheidungen entsprechend zu berücksichtigen. Krisen haben oft ein hohes Mobilisierungspotenzial für Veränderungen. Als Ermutigung sei dabei betont: katastrophale soziale und wirtschaftliche Bedingungen müssen nicht zwangsläufig zu einer desolaten Entwicklung führen. Es gibt immer wieder Menschen und Gesellschaften, die an Krisen wachsen und ein hohes Maß an Resilienz entwickeln. Schlüsselelemente sind hierbei soziale und kulturelle Ressourcen der Kommunikation, Netzwerke von Solidarität, aber auch Fähigkeiten kreativer Verarbeitung widriger Erfahrungen, die neue Dimensionen des Miteinanders eröffnen (etwa das Balkonsingen, initiiert von den Menschen in Italien).
Dabei wissen wir, dass die Situation nach wie vor höchst fragil ist. Unter der Hypothek hoher Überschuldungen muss wirtschaftliche Nachhaltigkeit neu gelernt werden. Eine Verschuldung, die nicht zurückgezahlt werden kann, ist unsolidarisch gegenüber künftigen Generationen. Corona-Bonds oder internationale Kredite erscheinen auf der einen Seite eine notwenigen Solidarleistung für den Zusammenhalt in Europa. Auf der anderen Seite werden dadurch jedoch Haftungsrisiken kollektiviert und nationale Eigenverantwortung im Umgang mit den Schulden geschwächt. Auch eine Unterstützung für die überschuldeten Kommunen ist auf der einen Seite eine notwendige Solidarleistung, ohne die viele Kommunen die Problembewältigung vor Ort nicht schaffen werden. Auf der anderen Seite werden Bundesländer wie Bayern, die bereits seit vielen Jahren auf die Überschuldung der Kommunen reagiert und sie stärker unterstützt haben, damit „bestraft“, weil ihre Kommunen weniger Unterstützung erhalten und die Mittel anderswohin abfließen. Solche Dilemma-Situationen der Solidarität in Corona-Zeiten sind unausweichlich und können nur durch Abwägung mit Augenmaß einigermaßen bewältigt werden. Die mangelnde Solidarität Deutschlands in der Frühphase der Corona-Krise mit Italien hinsichtlich der Unterstützung mit Schutzkleidung und Beatmungsgeräten hat sich in dort in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. Auch die Schließung der europäischen Grenzen war ein Akt des Misstrauens, der als Schutzmaßnahme sinnvoll war und ist, der jedoch nicht ohne Folgen für das kollektive Bewusstsein bleibt.
Nachhaltige Solidarität
Corona hat deutlich gezeigt, wie entscheidend der Übergang von der nachsorgenden zur präventiven Problembehandlung sowie vom Einzelproblem-Management zur systemischen Sicht ist. Nachhaltige Solidarität ist die konzeptionelle Antwort auf die Corona-Krise und muss selbst in der Krise strategisch weiterentwickelt werden. Lernerfahrungen im erfolgreichen Ausbau der Gesundheitssysteme zu hoher Elastizität und Resilienz können auch für andere Bereiche genutzt und müssen international ausgetauscht werden. Alles dreht sich darum, vom planlosen Modus des Wandels by desaster zum zielorientierten Wandel by design zurückzufinden. Es kommt darauf an, systemrelevante Faktoren rechtzeitig zu erkennen und beharrlich zu handeln, bevor die Kontrolle entgleitet. In der Finanzkrise 2008/2009 haben wir es weitgehend versäumt, den Umbruch für systemische Innovation zu nutzen. Die Einsicht in die Systemrelevanz der Pflegeberufe sollte sich jetzt solidarisch in einer besseren Bezahlung ausdrücken.
Es gibt vieles, was wir lernen können, um die sozialen Immunsysteme gegen künftige Krisen nachhaltig zu stärken: Dazu gehört auch die Abwehr „infodemischer“ Fehlinformationen und Verschwörungstheorien, die ein typisches Reaktionsmuster von angstbesetzter Realitätsverweigerung sind. Wer sein Herz öffnet für echte Anteilnahme und Solidarität mit den weltweit inzwischen mehr als 10 Millionen Erkrankten und 500.000 Toten, wird sich nicht in Verschwörungstheorien, die das Problem wegzuleugnen suchen, verlieren.
Titelbild: Die Welt nach Corona kann nicht mehr die vor Corona sein. Kursänderungen sind notwendig – politisch, wirtschaftlich und persönlich. Jetzt gilt es, Chancen für echte Veränderungen zu ergreifen.
Titelfoto: ROMOLO TAVANI / Adobe Stock