Als im Jahr 1968 die ersten Pfarrgemeinderäte in Bayern und Deutschland gewählt wurden, war dies nicht der Anfang des katholischen Laienapostolats. Aber es war der Anfang von Demokratie in der katholischen Kirche. Seither sind mehr als 50 Jahre vergangen. Die Pfarrgemeinderäte sind eine Erfolgsgeschichte. In den Gemeinden der Urkirche gab es noch keine Pfarrgemeinderäte, aber es gab Antworten auf Fragen, die den heutigen gar nicht unähnlich sind.
Die Bibel bietet für die künftige Entwicklung weder passgenaue Modelle noch einfache Rezepte. Was wir aber finden können, sind Maximen, von denen das Miteinander in der Jesusbewegung und in den frühen Gemeinden bestimmt war.
Kirche gibt es nur, weil es in der Jesusbewegung Frauen und Männer gab, die mit Vollmacht ausgestattet waren und Verantwortung übernahmen.
Die historische Jesusforschung zeigt: Jesus hat Männer und Frauen in die Nachfolge gerufen. Diese Nachfolger Jesu wurden mit Vollmacht ausgestattet und zur Verantwortungsübernahme befähigt. Jesus selbst hat von sich selbst weder als „Messias“ noch als „Sohn Gottes“ gesprochen. Jedoch wurden wahrscheinlich messianische Erwartungen an ihn herangetragen. Diese Hoffnungen hat Jesus allerdings nicht exklusiv auf sich bezogen, sondern er hat sie auf seine Jünger übertragen.
Im Zentrum der Botschaft und Praxis Jesu stand das im Kommen begriffene Reich Gottes. Allerdings brachte Jesus diese Gottesherrschaft nicht exklusiv mit seiner Person in Verbindung. Vielmehr verankerte er sie in verschiedenen Kollektiven: bei den Armen (Mt 5,3), den Kindern (Mk 10,14), den Jüngern (Lk 12,32; Mk 4,12; Lk 17,20f) oder auch dem Volk (Mt 8,11). Diese werden als Träger und Repräsentantinnen der Königsherrschaft Gottes angesehen.
Die Evangelien sind sich einig, dass Jesus mit einer besonderen Vollmacht ausgestattet war, die seine Lehre und sein Handeln prägte und Menschen in seinen Bann zog (vgl. Mk 1,22). Allerdings verstand Jesus seine Sendung nicht exklusiv, sondern teilte sie mit den Nachfolgern: Er ließ sie an seiner Vollmacht und seinem Charisma partizipieren. Das zeigt sich besonders in den Berufungs- und Aussendungsüberlieferungen: Jesus sendet Jünger nach dem übereinstimmenden Zeugnis der synoptischen Tradition mit einem Auftrag aus, der seinem eigenen entspricht: Wie er selbst sollen sie die Gottesherrschaft ankündigen, Dämonen austreiben und Kranke heilen. (Voll-)Macht wird geteilt und zur Befähigung aller eingesetzt – die Jesusbewegung ist von ihrem innersten Anliegen her geprägt durch Teilen von und Teilhabenlassen an Macht. Dies gilt nicht nur für einige Auserwählte, sondern für viele, wie die Aussendung der 72 Jünger zeigt (Lk 10,1–12). Genau hierin ist der Ursprung der Kirche und des Kirchengedankens zu suchen. Weil es diese mit Vollmacht ausgestatteten Menschen gab, die das Leben Jesu teilten, mit ihm unterwegs waren, verkündeten und heilten, und weil die Gottesherrschaft nicht exklusiv mit der Person Jesu verbunden war, konnte dieses messianische Kollektiv den Tod Jesu überstehen und das gemeinsame Reich-Gottes-Projekt weitertragen. Darin liegt eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass es Kirche überhaupt gibt.
Die ersten Gemeinden waren von allen Getauften getragen, die ihre spezifischen Kompetenzen in die Gemeinden einbrachten.
Was sich in der Jesusbewegung beobachten ließ, wurde in den ersten Gemeinden weitergeführt: diese wurden von allen Getauften getragen. Grundlegend für die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Christusgläubigen ist nach Paulus der Glaube an – besser: das Vertrauen auf – den Messias Jesus. Rituell markiert wird dies in der Taufe. Durch sie werden die Getauften buchstäblich Christus-förmig. Das hat konkrete Auswirkungen auf das Leben und Handeln. Wer sich in dieser Weise ganz von diesem Christus prägen lässt, kann nicht mehr in der gleichen Weise leben und handeln wie zuvor. Denn dieser Christus ist ja der Gekreuzigte, der sich ans unterste Ende der sozialen Skala gestellt hat und den verachtetsten aller Tode gestorben ist – der aber von Gott auferweckt wurde und nun als der „Sohn Gottes“ bekannt wird. Das stellt die herrschende Werteskala und die sozialen und politischen Machtverhältnisse auf den Kopf.
Das hat Folgen: Wer diesem Christus zugehörig ist, kann nicht all die in der Gesellschaft herrschenden Machtstrukturen, die Gewaltverhältnisse, das Unrecht weiterschreiben. Vielmehr kann und soll, wer diesem Christus zugehörig ist, neu und anders handeln. Für das gemeindliche Miteinander formuliert es ein Text aus dem Galaterbrief, der wahrscheinlich anlässlich von Taufen gesprochen oder gesungen wurde, so:
„Denn alle seid ihr durch den Glauben Söhne und Töchter Gottes in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus.“ (Gal 3,26–28)
Dies ist nicht weniger als eine Magna Charta für christliche Gemeinden. Alte Strukturen und Machtverhältnisse, die Menschen nach ihrer Herkunft, ihrem sozialen Status, ihrem Geschlecht oder ihrer sexuellen Orientierung einteilen und bewerten, haben ausgedient. Angesagt sind dagegen vorbehaltlose Anerkennung von Frauen und Männern, Fremden und Einheimischen, Armen und Reichen, Jungen und Alten. Angesagt ist die Teilhabe aller.
Kennzeichen der neutestamentlichen Gemeinden ist eine Vielfalt an Modellen und Strukturen.
Bei den paulinischen Gemeinden des Anfangs ist es nicht geblieben. Die Zeiten haben sich verändert, die Gemeinden sind gewachsen, neue Situationen an unterschiedlichen Orten haben die Gemeinden immer wieder vor neue Herausforderungen gestellt. So ist es nicht verwunderlich, dass wir in den neutestamentlichen Schriften unterschiedliche Vorstellungen von Gemeinden und daher auch verschiedene Strukturmodelle finden. So kennen zum Beispiel die Apostelgeschichte, der Jakobusbrief und der Erste Petrusbrief Ältestenräte, die die Geschicke einer Gemeinde lenken. Die Pastoralbriefe setzen eher auf einen Gemeindeleiter, einen Episkopos, das heißt einen „Aufseher“, der genau hinschaut (1 Tim 3,1–7). Sie kennen daneben aber auch ein Gremium von Diakonen, eine Gruppe von Ältesten oder auch eine Gruppe von Witwen (1 Tim 3,8–13; 5,3–16.17–22). Das Johannesevangelium ist dagegen eher skeptisch gegenüber Ämtern. Vor allem „Hirten“ erregen das Misstrauen der Gemeinde; denn es gibt nur einen guten Hirten: Jesus Christus selbst (Joh 10,1–21). Die Offenbarung des Johannes will im neuen Jerusalem nicht einmal mehr einen Tempel sehen; denn Gott und das Lamm wohnen direkt unter den Menschen. Es gibt kein Kultpersonal mit den entsprechenden Privilegien und Machtpositionen mehr, vielmehr haben alle gleichermaßen direkten Zugang zu Gott (Offb 21,1–22,5). Die Liste ließe sich fortsetzen.
Es zeigt sich: Die neutestamentlichen Gemeinden reagierten mit großem Einfallsreichtum und in großer Freiheit auf sich verändernde Situationen. Sie versuchten, jeweils in Rückbindung an die Botschaft Jesu, angemessene Antworten auf neue Herausforderungen zu finden. Sie entwickelten Bestehendes weiter, fanden oder erfanden neue Strukturen. Als die Schriften kanonisiert wurden, ist keines der Strukturmodelle als einzig gültig erklärt worden. Lesen wir dies als Ermutigung für heute, nicht bei einem einmal gefundenen Modell zu verharren, sondern erfinderisch zu sein, Vielfalt zuzulassen und in Freiheit neue Wege zu beschreiten, die den Herausforderungen unserer Zeit gerechter werden.
Titelbild: Die Gemeinden der Urkirche haben es vorgemacht – Zeit, neue Wege zu beschreiten.
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Unter dem Titel Gute Wahl. 50 Jahre Pfarrgemeinderäte in Bayern hat das Landeskomitee der Katholiken in Bayern ein neues Heft in der Reihe Zeitansagen veröffentlicht. Dabei handelt es sich um die Dokumentation des gleichnamigen Studientages vom 28. September 2018, angereichert um weitere Texte zur Geschichte des Laienapostolats in Bayern, sowie Zukunftsperspektiven für die Pfarrgemeinderäte. Das Heft kann online und in der Geschäftsstelle des Landeskomitees bestellt werden.