Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: März-April 2021

Schwerpunkt

Glaube als Paradox

Foto: Howgill / Adobe stock

Eine der faszinierendsten literarischen Auseinandersetzungen mit dem Phänomen »Glaube« ist das Buch »Furcht und Zittern«, das der dänische Dichter und Philosoph Sören Kierkegaard 1843 pseudonym veröffentlichte. Seine Beschreibung des Glaubens als eine „paradoxe Doppelbewegung“ ist auch heute noch aktuell.

Ausgangspunkt und Zentrum von Kierkegaards Furcht und Zittern ist die Prüfung Abrahams durch Gott, wie sie in Genesis 22,1-19 erzählt wird. Danach befiehlt Gott dem Mann, dem er zuvor ein ganzes Volk als Nachkommen verheißen hat: „Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du liebhast, und geh hin in das Land Morija und opfere ihn dort zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde.“ Abraham folgt der Weisung widerspruchslos, bricht mit Isaak, zwei Knechten und einem Esel in aller Frühe auf und kommt nach drei Tagesreisen an den genannten Ort – nach jüdischer Lesart der heutige Jerusalemer Tempelberg. Dort bereitet er das Brandopfer vor, wird aber im letzten Moment von einem Engel an der Tat gehindert: „Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts; denn nun weiß ich, dass du Gott fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen.“ Abraham lässt von Isaak ab und opfert stattdessen einen Widder. Nach dieser bestandenen Prüfung erneuert und bestärkt Gott seine Verheißung an Abraham: „Durch dein Geschlecht sollen alle Völker auf Erden gesegnet werden, weil du meiner Stimme gehorcht hast.“

Glaube und Philosophie

Diese biblische Erzählung ist für Kierkegaard der Schlüssel, um das Wesen des Glaubens zu verstehen. Vor allem möchte er von Abraham lernen, inwiefern das Gebot, nicht zu töten, durch eine höhere Instanz aufgehoben werden kann. Denn rein moralisch betrachtet, ist Abraham ein potentieller Mörder: er ist bereit, seinen Sohn umzubringen. Religiös wird diese Tat aber als ein geschuldetes Opfer gedeutet. Ist das ethische Urteil also gar nicht das letzte Wort? Gibt es ein Ziel, für das die Allgemeingültigkeit des Ethischen aufgehoben werden muss?

Der Philosoph Immanuel Kant stand vor dem gleichen Problem – und löste es in seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft wie Alexander der Große den Gordischen Knoten: da für Kant ein Widerspruch zwischen Vernunft und göttlichem Willen undenkbar war, nahm er an, dass Abraham sich irrte, also gar nicht die Stimme Gottes hörte, oder dass die Erzählung nur legendarisch aufzufassen ist.

So einfach macht es sich Kierkegaard nicht. Zunächst versucht er, die Situation psychologisch zu verstehen. Er will das Unerhörte dieser Episode plastisch herausstellen, das in der theologischen Exegese allzu schnell verharmlost wird. Dazu stellt er fünf Alternativen zu Abrahams geschildertem Verhalten vor, die psychologisch nachvollziehbar wären.

  1. Abraham gehorcht Gottes Befehl, spielt Isaak aber auf dem Berg Morija vor, er bete Götzen an und morde aus purer Lust. Isaak schreit verzweifelt: „Gott im Himmel, erbarme dich über mich, habe ich keinen Vater auf Erden, dann sei du mein Vater.“ Genau das hat Abraham mit seinem Verhalten gewollt. Er betet still: „Herr im Himmel, ich danke dir; es ist doch besser, dass er glaubt, ich sei ein Unmensch, als dass er den Glauben an dich verlieren sollte.“
  2. Abraham bricht sein Vorhaben ab, bevor der Engel des Herrn einschreitet, sieht einen Widder im Busch und opfert ihn anstelle Isaaks. „Von dem Tag an war Abraham alt; er konnte nicht vergessen, dass Gott solches von ihm gefordert hatte. Isaak gedieh wie vordem, Abrahams Augen aber waren verdunkelt, er sah die Freude nicht mehr.“
  3. Die Geschichte trägt sich so zu wie in der Bibel beschrieben – aber Abraham kommt nicht darüber hinweg, dass er tatsächlich bereit gewesen wäre, seinen Sohn zu töten, und findet für den Rest seines Lebens keine Ruhe mehr. „Er konnte nicht begreifen, dass es eine Sünde war, wenn er Gott das Beste hatte opfern wollen, das er besaß, das, wofür er gerne selbst viele Male das Leben gelassen hätte; und falls es eine Sünde war, wenn er Isaak nicht so geliebt hätte, so konnte er nicht verstehen, dass diese vergeben werden konnte; denn welche Sünde war entsetzlicher?“
  4. Abraham zündet den Scheiterhaufen an, zückt das Messer und ruft zu Gott: „Verschmähe nicht dieses Opfer, es ist nicht das Beste, was ich besitze, das weiß ich wohl; denn was ist ein alter Mann gegenüber dem Kind der Verheißung; aber es ist das Beste, das ich dir geben kann.“ Und dann stößt er das Messer in die eigene Brust.
  5. Abraham handelt wie von Gott befohlen – aber als er das Messer zückt, sieht Isaak, wie sich „Abrahams Linke in Verzweiflung ballte, dass ein Zittern durch seinen Körper ging“. Sie kehren gemeinsam heim, wie in der Genesis-Erzählung, „aber Isaak hatte den Glauben verloren“.

Biblisches Paradox

Keines der fünf Szenarien stimmt mit der biblischen Erzählung überein. Offensichtlich verhält sich Abraham so paradox, dass er psychologisch nicht fassbar wird. „Keiner war doch so groß wie Abraham; wer ist imstande, ihn zu verstehen?“ Kierkegaard versucht nun das Paradoxe an Abrahams Verhalten genau zu lokalisieren und zu benennen. Er spricht von einer „paradoxen Doppelbewegung“, die seinen Glauben auszeichnet.

Im ersten Teil der Doppelbewegung gibt Abraham seine eigenen Berechnungen, seinen begrenzten Verstand auf. Kierkegaard nennt dies die „unendliche Resignation“, weil sie sich von allem Endlichen, in dem wir unser Dasein haben, verabschiedet: Abraham fragt nicht, warum er ausgerechnet den Sohn opfern soll, aus dessen Samen nach Gottes Verheißung ein ganzes Volk entspringen soll. Er zweifelt nicht, sondern führt das scheinbar Widersinnige aus, weil es Gottes Wille ist. Doch die „unendliche Resignation“ allein, die Aufgabe des eigenen zugunsten des göttlichen Willens, macht Abrahams Glauben noch nicht paradox. Kierkegaard zeigt dies, indem er sich vorstellt, er selbst habe den Auftrag von Gott bekommen. Aus Feigheit Gott gegenüber macht er sich ohne Nachfragen auf den Weg, vielleicht sogar zu früh, „damit es bald überstanden sein konnte“. Er sagt zu sich: „Jetzt ist alles verloren, Gott fordert Isaak, ich opfere ihn, mit ihm alle meine Freude –  dennoch ist Gott Liebe und wird es weiterhin für mich sein.“ Mit dieser fatalistischen Ergebenheit hätte „ich die ganze Geschichte verdorben; denn hätte ich Isaak wiederbekommen, dann wäre ich in Verlegenheit geraten“. Auf diese unerwartete Wendung wäre er gar nicht eingestellt gewesen, er wäre darüber regelrecht erschrocken, während es für Abraham ganz selbstverständlich war, mit seinem Sohn vom Berg wieder hinunterzugehen. Er sagt zu seinen Knechten: „Wir werden wieder zurückkommen“ (Genesis 22,5).

Rückkehr in die Wirklichkeit

Der biblische Abraham vollzieht auch den zweiten Teil der Doppelbewegung: die Rückkehr in die Wirklichkeit. Abraham „glaubte, Gott werde Isaak nicht von ihm fordern, während er doch willig war, ihn zu opfern, wenn es verlangt wurde“. Während die erste Bewegung von der Endlichkeit des menschlichen Lebens in die Maßstäbe der Unendlichkeit führt, kehrt der Glaubende mit der zweiten Bewegung zurück in die Endlichkeit, in seine Lebenswirklichkeit. Kierkegaard nennt dies den „Glauben kraft des Absurden“.

Mit diesem Gedanken will der dänische Philosoph den Glauben retten vor der bequemen Religiosität seiner – man möchte ergänzen: und unserer – Zeit. Eine Art höheres Wesen anzunehmen und Gott zu nennen, das wahlweise für den Urknall gesorgt hat, die Liebe oder das Gute an sich darstellt, und uns ansonsten in Ruhe lässt, ist für Kierkegaard kein Glaube, sondern ein Akt des Verstandes. Wahrer Glaube verändert das konkrete Leben des Gläubigen auf eine für den Verstand nicht nachvollziehbare, paradoxe Weise.

Abraham „hat in unendlicher Resignation auf alles verzichtet und dann hat er alles wieder ergriffen kraft des Absurden. Er macht ständig die Bewegung der Unendlichkeit, aber er tut es mit solch einer Richtigkeit und Sicherheit, dass er ständig die Endlichkeit herausbekommt.“ Der entscheidende Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Bewegung ist der, dass die „unendliche Resignation“ vom Menschen selbst ohne fremde Hilfe geleistet werden kann, während die Rückkehr zum Endlichen nur „kraft des Absurden“ möglich ist, das heißt im uneingeschränkten Vertrauen auf einen allmächtigen Gott.

Glauben in diesem Sinn bedeutet, das zurück zu bekommen, auf was man verzichtet. Das hat der „reiche Jüngling“ nicht verstanden, von dem im Neuen Testament berichtet wird. Er befolgt alle Gebote, aber Jesu Rat, seine Habe zu verkaufen, unter den Armen zu verteilen und ihm nachzufolgen, kann er nicht umsetzen. Ihm fehlt der Glaube, dass er alles das, was er mit seinem Reichtum verbindet, in der Nachfolge Jesu wiedergewinnen wird.

Kierkegaard macht deutlich, „welch ungeheures Paradoxon der Glaube ist, ein Paradoxon, das einen Mord zu einer heiligen und gottwohlgefälligen Handlung zu machen vermag, ein Paradoxon, dessen kein Denken sich bemächtigen kann, weil der Glaube eben da anfängt, wo das Denken aufhört.“


Titelfoto: Die Geschichte von Abraham, der seinen Sohn zu opfern bereit ist, bot Stoff für unzählige künstlerische Umsetzungen der biblischen Szene. 

 


Verfasst von:

Frank Hofmann

Andere Zeiten e. V.