Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: März-April 2021

Ökumene

Wo der Glaube blüht

Foto: Peter Roth

Neue, ungewohnte und damit andere Orte des Zugangs zum Glauben sind gefragt. Eine Blühwiese im Augsburger Univiertel – ökumenisch angelegt und gepflegt – will ein solcher Andersort des Glaubens sein.

„Was machen Sie da?“, fragt eine Frau im Vorbeigehen Peter Roth, der sich am Gras zu schaffen macht. „Wir haben den Humus abgehoben und Wildblumen gepflanzt“, lautet seine Antwort. „Blumen finde ich gut!“ hört er noch, bevor die Frau weitergeht. Eine Mutter mit Kindern bleibt stehen: „Wie lange sind die Schafe noch auf der Wiese? Kommen sie nächstes Jahr wieder?“

„Die wilden Blumen locken sicher Insekten an“, sagt eine Frau. „Mir ist der Insektenschutz so wichtig, dass ich zuhause auch etwas mache. Ich bepflanze Blumenkästen mit Wildblumen. Haben Sie eine Kopie der erklärenden Tafel? Ich möchte dies an meine Bekannten weitergeben.“ Die Antwort lautet: „Die Kirchengemeindesekretärin hat sicher eine Kopie, fragen Sie gerne im Pfarrbüro nach.“ – diese  drei Szenen ereigneten sich auf der Wiese vor der evangelischen Stephanuskirche im Augsburger Univiertel.

Entstehung

Mit einer Unterhaltung im Sommer 2017 fing alles an. Die große Grünfläche ist wieder einmal kurz gemäht und zeigt ein monotones Einheitsgrün, keine Blüten, wenig Leben. Dabei könnte es doch in dieser Jahreszeit dort summen, brummen und zirpen. Warum lässt man hier keine Blumen wachsen? Alles redet vom Insektensterben, vom Erhalt der Biodiversität. So wird das Projekt ESG-Heide schließlich geboren.

Zuerst musste das Einverständnis des Kirchenvorstands der Paul-Gerhardt-Gemeinde, der Eigentümerin der Fläche, eingeholt werden. Wichtig für diesen war vor allem die Versicherung, dass der Gemeinde durch das Projekt keine Mehrkosten entstünden und jederzeit der Ausgangszustand wiederhergestellt werden könnte. Wir erklärten, dass wir die Pflegearbeit zusammen mit Studierenden ehrenamtlich übernehmen würden und so auch die bisher anfallenden Mähkosten entfielen. Dass die Ehrenamtlichen die Früchte der Sträucher erhalten würden, erhöhte die Motivation.

Die Blühwiese im Augsburger Univiertel ist vielseitig: gesäumt von Sträuchern, wachsen dort auch Tomaten, Zucchini und anderes Gemüse. Foto: Peter Roth

Im Herbst 2017 startete das Projekt. Wir hoben 13 Rohbodeninseln aus, die wir im Frühjahr mit Wildblumensamen besäten; bis sie ihre volle Blütenpracht zeigen und sich weiter über die Wiese ausbreiten, werden allerdings noch einige Jahre vergehen. Die Grassoden schichteten wir zu einem Hügelbeet auf, das im Sommer 2018 eine üppige Ernte von Tomaten, Kürbissen, Zucchini, Kartoffeln und Paprika lieferte. Am Rand der Wiese pflanzten wir Johannis- und Stachelbeeren und stellten eine Informationstafel auf, auf der wir das Projekt erläutern. Das Hügelbeet und die Tafel sind zum Blickfang für die Passanten geworden. Sie freuen sich, dass wir das Thema „Insektensterben“ aufgreifen und im Rahmen unserer Möglichkeit handeln.

Fünf ostpreußische Skudden-Schafe sorgten im Sommer für einen „natürlichen“ Kurzschnitt des Grases – und waren der Hingucker schlechthin. Foto: Peter Roth

Die Hauptattraktion für die Menschen im Viertel waren allerdings die fünf Schafe, Ostpreußische Skudden, unter ihnen ein junges Lämmchen, die im Juli für zwei Wochen auf der Wiese grasten. Sie lockten den ganzen Tag über viele Menschen an.

 

 

 

 

Andersort des Lebens

Diese Wiese ist ein ungewöhnlicher Ort mitten in der Stadt aus Beton, Asphalt und kurzgeschorenen Grünflächen. Es ist ein befremdlicher Ort des Lebens, ein Andersort, Heterotop (gr. hetero, dt. anders und gr. topos dt. Ort) im Sinne des Philosophen Michel Foucault. Es ist ein Raum, der mit Qualitäten aufgeladen ist, mit sonderbaren Eigenschaften. Es ist ein wirksamer Ort, der sozusagen eine Gegenplatzierung, eine tatsächlich realisierte Utopie, repräsentiert.

Die globale Verstädterung scheint ein Zeichen der Zeit zu sein, das für den vornehmlich ländlich geprägten christlichen Glauben eine Herausforderung darstellen sollte. Pointiert gesprochen: Gott ist kein Landei, sondern ein Stadtbewohner. In der Stadt haben es kirchliche Angebote und Einladungen schwerer als auf dem Land, weil dort – neben Vereinen – die Kirche oft die einzige Anbieterin ist. In der Stadt tummeln sich viele Anbieter. Nichtbeachtung von kirchlichen Angeboten ist in einem urbanen Kontext aufs Ganze gesehen der Normalfall. Im Unterschied zu persönlichen Einladungen, die natürlich auch abgelehnt werden können, sind Angebote anonym: die anderen – außerhalb des eigenen Zugriffs – entscheiden, ob sie diese beachten oder nicht. Notwendig wären also entschlossene Angebote. Kann die schon skizzierte Wiese mit Wildblumen ein solches Angebot sein?

Andersort des Glaubens

Von wegen totes Holz – in diesem Totholzstapel wimmelt es nur so von Leben. Foto: Peter Roth

Ein Glaube, der sich den Zeichen der Zeit aussetzt, muss Umweltzerstörungen, beispielsweise das Insektensterben, wahrnehmen und thematisieren. Hier kann die Kirche mahnend das Wort erheben – und sie kann Andersorte initiieren. Durch einen solchen Raum drängt sich zuerst eine neue Sicht der Dinge auf. Eine Voraussetzung dafür ist, dass der Ort nicht hinter Kirchenmauern versteckt liegt, sondern dem städtischen Leben ausgesetzt ist. Ein solcher Ort darf auch nicht den üblichen Taktiken unterliegen, das Evangelium anzubringen, beispielsweise ein zum Thema – mehr oder weniger – passender Bibelspruch oder moralischer Appell. Solche Orte erschließen sich nicht einfach empirisch, sondern wollen entdeckt werden, weil sie – teilweise auch verwirrende – Überraschungen liefern, weil sie die bestimmende, gewohnte Ordnung der Dinge überschreiten. Heterotope verkörpern drei Dimensionen: Was für die Zeit „Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ sind, sind für den Raum nach Edward Soja „erlebter Platz, wahrgenommener und begriffener Ort“ sowie – als Beziehung zwischen beiden – „belebter Raum“. Kann eine Wiese mit Wildblumen eine solche Heterotopie auch für die christliche Religion werden?

  • Zunächst ist da der tatsächliche Platz. Der verdreckte, als Hundetoilette verwendete Rasen vor der Kirche wurde abgetragen. Der Platz wird mit der Wiese zum erlebbaren, erfahrbaren Platz. Die Blumen leuchten und duften, die Schafe blöken, das Gemüse wächst. Dieser Platz ist hier, auch wenn Menschen daran vorbeihasten.
  • Für manche ist dieser Platz dann ein Anlass zur Unterbrechung des Gewohnten: sie bleiben stehen, verweilen. Nehmen die Blumen, das Gemüse, die Schafe wahr. Erfreuen sich des Erlebten.
  • Die erste und die zweite Dimension werden in der Wechselbeziehung zwischen beiden überschritten, sodass konkret Leben aufgespürt wird: die Schafe werden gestreichelt, ein Gespräch mit dem auf der Wiese Arbeitenden gesucht, Kopien im Kirchengemeindesekretariat geholt und Bekannten weitergegeben.

Für Gläubige ist die letzte Dimension von besonderem Interesse, da hier die Präsenz Gottes im Leben zu vermuten ist. Doch in diesem Lebensraum wird relativiert, wie man üblicherweise vom Glauben redet. Vorschnelle religiöse Deutungen sind zu vermeiden. Menschen können aber wahrnehmen, was Kirche macht und sein kann. Sie können erleben, wie Hektik unterbrochen und Leben neu erlebt wird. Und schließlich können sie – müssen es aber nicht – Leben mit Glauben und Gott in Verbindung bringen.

Ausblick

Nach drei Jahren wurde deutlich: mit dieser Wiese können Prozesse angestoßen werden, in die man hineingezogen wird und die einen selbst Teil des Prozesses werden lassen. Wie Mitgliedern des Kirchenvorstandes immer wieder mitgeteilt wird, scheint sich die Wahrnehmung der Kirchengemeinde im Stadtviertel positiv zu verändern. Jetzt weiß, erlebt und erfährt man, wofür Kirche steht. Sicher ist der weitere Prozess des Projektes nicht vorherbestimmbar, doch das hat das Projekt mit dem Leben und Glauben gemeinsam.