Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: Mai-Juni 2021

Interview

"Bildung darf kitzeln"

Foto: CPH

Für Siegfried Grillmeyer, Direktor des Caritas-Pirckheimer-Hauses in Nürnberg, heißt Bildung nicht nur Pauken: Bildung und Begegnung gehören für ihn untrennbar zusammen. Ein Gespräch über eine veränderte Bildungslandschaft, Lehren aus der Krise und warum Weltkirche als Lerngemeinschaft verstanden werden sollte.

Gemeinde creativ: Wie haben Sie im Caritas-Pirckheimer-Haus in Nürnberg das vergangene Jahr erlebt? 

Siegfried Grillmeyer: Das Caritas-Pickheimer-Haus (CPH) in Nürnberg ist eine Einheit aus Akademie und Tagungszentrum. In der Akademie konnten wir viele Veranstaltungen digital anbieten, an Konzepten arbeiten und lange gehegte Dokumentationen abschließen. Dazu gehören beispielsweise unser Jugendprojekt „Mobben stoppen“ und auch die Dokumentation einer ganz außergewöhnlichen Tagung zum Thema „Versöhnung“, die wir 2015 in Ruanda abgehalten haben. Für unser Tagungshaus war Corona und damit der Lockdown natürlich eine Katastrophe, da wir wie jedes andere Tagungshotel auch die Einnahmenverluste nicht ausgleichen konnten.

Bildungsangebote haben sich im vergangenen Jahr verändert …

Auch wenn wir zuvor schon erste Schritte im Bereich digitale Bildung und Präsenz in den sozialen Medien angegangen waren, Corona brachte eine immense Beschleunigung: wir haben bereits im Juni 2020 hybride Veranstaltungen auf den Weg gebracht. Und natürlich haben wir ebenso voll-digitale Vorträge und Konferenzen angeboten. Wir haben immer versucht, aus dem was möglich war, das Beste zu machen.

Besonders spannend waren die „Theologischen Hofgespräche“. Hierfür haben wir die Möglichkeiten unseres schönen Innenhofs genutzt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer saßen im Sommer im Freien, die vorgeschriebenen Abstände waren kein Problem und der Austausch untereinander doch möglich. Diese Reihe kam so gut an, dass wir sie gerne – unabhängig von Corona – weiterführen möchten.

Wir haben in der Zeit gemerkt, dass trotz bestens organisierter technischer Angebote das Bedürfnis der Menschen groß ist, wieder ins Haus zu kommen, sich zu treffen und auszutauschen. Die persönliche Begegnung kann kein noch so durchdachtes digitales Format ersetzen.

Viele Veranstaltungen finden jetzt online statt. Das hat Vor- und Nachteile…

In der Tat: mir ist selten so bewusst geworden, dass Bildung und Begegnung einfach zwei Seiten einer Medaille sind. Mit unseren digitalen Angeboten haben wir Menschen erreicht, die nie zur Präsenzveranstaltung nach Nürnberg gekommen wären – wir hatten Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus ganz Deutschland und auch aus Österreich oder Liechtenstein zum Beispiel. Dass sich diese Menschen für unsere Themen interessiert haben, freut uns natürlich sehr Aber: natürlich kann ich selbst etwas lesen und mir Vorträge im Internet anschauen. Das hat alles seinen Wert. In einem umfassenden Sinne meint Bildung neben Wissenserwerb oder Selbstreflexion aber auch Austausch und die kontroverse Auseinandersetzung mit einem Gegenüber. Das geht digital leider nicht so gut.

Welche neuen Formate werden über die Corona-Krise hinaus bleiben?

Zu manchen Treffen und Konferenzen, bei denen es hauptsächlich um Wissensaustausch geht und weniger um vertiefte Auseinandersetzung und Begegnung, werden auch künftig Videokonferenzen und dazugehörige Formate etabliert bleiben – so werden wir auch weiterhin die Möglichkeiten anbieten, unsere Veranstaltungen entweder im Livestream mitzuverfolgen oder später im Netz nachzuschauen. Eines fällt auf: in den vergangenen Monaten ist der Anspruch der Teilnehmerinnen und Teilnehmer gewachsen. Es reicht nicht mehr, Veranstaltungen mit einer wackeligen Handykamera mit zu filmen. Interessierte erwarten nicht nur inhaltliche, sondern auch technische Professionalität.

Die Corona-Krise beschleunigt Entwicklungen, auch für die Kirche scheint das in einigen Bereichen zuzutreffen – viele Bistümer setzen jetzt den Rotstift an, auch erste Bildungshäuser werden geschlossen. Wie sehen Sie diese Entwicklung?

Es ist wirklich schmerzlich, wie viele Bildungshäuser in deutschen Diözesen bereits im Lauf des vergangenen Jahres geschlossen wurden bzw. deren Schließung angekündigt wurde. In Mainz schließt man eine Akademie für politische Bildung, in Essen und Hildesheim werden aus zwei Akademien jeweils eine und in unserer Nachbardiözese Würzburg sollen einige Bildungshäuser nicht mehr auf Dauer betrieben werden. Es war und ist immer schon eine große Herausforderung, gerade bei den Bildungshäusern die Werte und Wirtschaftlichkeit zu verbinden. Hier braucht es gute Konzepte und meine Befürchtung ist, dass man an manchen Orten zuerst kürzt, bevor man die Konzepte entwickelt. Christentum und Bildung sind von Anfang an untrennbar miteinander verbunden gewesen. Das dürfen wir bei allen Debatten um Sparmaßnahmen nicht vergessen.

Gerade unter Franziskus ist immer deutlicher geworden, dass er so etwas wie eine „Diakonie der Bildung“ sieht, dass Bildung einen Beitrag leisten soll für eine humanistische Solidarität. Da steckt ganz stark drin: wir müssen neue Netzwerke bilden, wir müssen uns als Christinnen und Christen miteinander und gemeinsam mit Menschen anderen Hintergrunds dafür einsetzen, um Bildung, Humanität und Gemeinsinn zu schaffen.

In den vergangenen Monaten wurde viel darüber diskutiert, was Bildung eigentlich ist und ausmacht. Trotzdem hat man noch immer den Eindruck, die Politik meint in erster Linie Schulen, wenn sie von „Bildung“ spricht…

Bildung ist für mich ein lebenslanger Prozess, da er den Menschen in seiner Entfaltung in den Blick nimmt, seine Persönlichkeit, ihn in Beziehung setzt zu seinen Mitmenschen und zur Umwelt in Verantwortung füreinander. Deshalb bedarf es neben der schulischen Ausbildung der ganzen Bandbreite von Bildungsangeboten, lebenslang. Der einzelne Mensch reift. Und mit diesem Selbstverständnis muss man sich gegen eine Definition wehren, die schulisch wie außerschulisch vor allem Ausbildung meint, die den Menschen einsetzbar und verfügbar macht. Menschen sind kein Humankapital und auch keine human ressource. „Menschen werden immer erst Menschen, wenn sie Menschen für andere sind“ – so hat es Ignatius von Loyola formuliert. Bildung ist eng mit dem Menschenbild verknüpft. In einer Gesellschaft, in der es darum geht, Persönlichkeiten auszubilden, da bin ich nahe dran an unserem christlichen Menschenbild. In einer Gesellschaft, in der Kinder und Jugendliche nur dafür geschult werden, um bestmöglich in der Wirtschaft zu funktionieren, ist man dagegen sehr weit davon entfernt.

Bildung darf nicht nur als das Vermitteln von schönen Inhalten verstanden werden – ein Theaterbesuch hier, eine Diskussionsrunde oder eine Literaturlesung dort. Bildung bedeutet echte Auseinandersetzung, echtes Hinterfragen. Bildung darf auch mal kitzeln und hin und wieder muss sie vielleicht sogar ein bisschen wehtun.

[Im Deutschen haben wir den einen Begriff Bildung, der all das meint. Andere Sprachen trennen hier. Im Englischen gibt es die beiden Begriffe education und formation. Das Ganzheitliche, das schon in unserem deutschen Wort Bildung grundgelegt ist, sollten wir uns wieder mehr zu Herzen nehmen. Wir sprechen ja nicht zu Unrecht auch von „Herzensbildung“. Dieser Art der Persönlichkeitsbildung muss genauso ihren Platz haben wie die Wissensvermittlung.]

Warum sind Angebote und Einrichtungen der Erwachsenenbildung unverzichtbar für die Gesellschaft?

Man kann nicht oft genug an das Böckenförde-Diktum erinnern. Der Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde hat sinngemäß gesagt: der liberale, demokratische Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Dazu braucht es Bildung und entsprechende Räume, die auch die Erwachsenbildung schafft.

Wenn wir von Erwachsenenbildung sprechen, meinen wir immer auch Begegnungsräume, in denen Menschen sich gemeinsam bilden. Es geht nicht nur um Selbstbildung, sondern auch die Auseinandersetzung mit dem Anderen, um den gemeinsamen Einsatz für gesellschaftliche Fragen.

Mir ist wichtig, dass unser plurales System erhalten bleibt, dass Bildung aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrieben wird. Wir als kirchliche Akteure wollen unsere Haltungen und Standpunkte nicht missionierend, sondern werbend in die Diskussion einbringen.

Jürgen Habermas hat von einer „notwendigen Übersetzungstätigkeit“ gesprochen. Er hat gesagt, wir brauchen für die Moderne die Übersetzungstätigkeit durch Bildungseinrichtungen, die uns das, was wir nicht fassen können, übersetzen können. Ein Beispiel ist die „Gottesebenbildlichkeit“. Für uns Christen ist sie der Bezugspunkt, wie wir „Würde“ begreifen.

Im CPH ist auch das Kompetenzzentrum für Demokratie und Menschenwürde (KDM) angesiedelt – sind die „Querdenker“ und „Verschwörungsmythen“ der vergangenen Monate da auch bei Ihnen aufgeschlagen?

Die Tendenzen der Polarisierung haben sich durch Corona in einem Maße verschärft, die wir uns so nicht haben vorstellen können. Es zeigen sich neue Allianzen: Impfskeptiker und Menschen aus dem esoterischen Bereich demonstrieren bei Querdenker-Demos gemeinsam mit Rechten. Hier sind Dämme gebrochen. Das hätte es vor ein paar Jahren in der Form nicht gegeben.

Hintergrund ist sehr oft ein fehlendes Vertrauen in demokratische Strukturen sowie das Gefühl einer zunehmenden Hilfslosigkeit in einer immer komplexer werdenden Welt. Die Menschen sind auf der Suche nach einfachen Erklärungen – nur leider driften solche schnell in die Richtung von Verschwörungsideologien ab.

Der Philosoph John Rawls hat einmal gesagt, jede Generation muss die Demokratie neu auf die Welt bringen und Bildung ist dabei die Hebamme. Wir sehen uns als KDM sehr gefordert, um manchen undemokratischen Tendenzen entgegenzutreten – und damit auch ein bisschen Hebamme zu sein. Im KDM haben wir uns schon in der Vergangenheit damit befasst, wie man Stammtischparolen argumentativ entgegentreten kann. Das haben wir jetzt auf Verschwörungsideologien ausgeweitet, Konzepte entwickelt und auch schon erste Seminare dazu angeboten. Das Thema wird weiter wichtig bleiben. Denn momentan sieht man, dass die Brüche quer durch Familien, Freundeskreise, Verbände oder auch Pfarrgemeinden gehen. Hier wollen wir Ansprechpartner sein für all diejenigen, die sich informieren wollen und Hilfe suchen. Und wir möchten die Leute ermutigen und befähigen, solchen Diskussionen nicht aus dem Weg zu gehen, sondern sie mit den nötigen Argumenten rüsten – wohlwissend, dass mit Menschen, die schon tief in Verschwörungsideologien verstrickt sind, sachliche Diskussionen oft nur schwer möglich sind.

Worauf kommt es Ihnen bei der Auswahl der Themen und Inhalte an?

Für uns gilt immer noch der Auftrag aus dem Zweiten Vatikanischen Konzil: wir wollen die Fragen der Zeit aufgreifen und sie im Licht unserer ethischen Grundlage, des Evangeliums, beleuchten. Natürlich thematisieren wir die Corona-Pandemie und fragen ganz konkret nach den Bedingungen von Solidarität und eines gelingenden, demokratischen Zusammenlebens. Und wenn wir über Demokratie und Solidarität reden, sprechen wir zum einen über die zugrundeliegenden Welterklärungen und zum anderen suchen wir nicht nur den lokalen, sondern neben dem nationalen auch den globalen Blick in unseren Veranstaltungen.

Noch ein Blick in die Welt: im CPH gibt es auch das Projekt „Blickpunkt Afrika“, Sie sind gut vernetzt im weltkirchlichen Bereich – was berichten Ihre Partner zur Lage vor Ort?

Offen gestanden: an manchen Tagen ist eine WhatsApp aus Ruanda oder Sambia meine größte Motivationsquelle, auch oder gerade weil die Lage dort wirklich ernst ist. Unsere Partner berichten von völlig zusammengebrochenen Versorgungssystemen im Bereich der Gesundheit und der Ernährung. Da sind unsere Probleme – die auch nicht klein sind und ich gebe zu, dass mir die lange Zeit mit Lockdown, Homeoffice und Homeschooling heftig auf die Nerven geht – dann doch Luxusprobleme.

Auf dem Papier sind die Infektionszahlen in Afrika nicht so hoch, wie man anfangs befürchtet hat. Das liegt sicherlich aber auch daran, dass sie nicht überall nach unseren Standards erhoben werden. Generell hat Afrika eine viel jüngere Bevölkerung, was die niedrigen Todeszahlen erklärt. Aber: auch dort gibt es Lockdowns, auch dort wurde das wirtschaftliche Leben heruntergefahren. Die Konsequenz ist, dass viele Straßenmärke und Verkaufsstände geschlossen haben. So wurde vielen Menschen von einem Tag auf den anderen die Lebensgrundlage entzogen, die Ernährungssicherheit bricht weg. In Afrika sterben die Menschen nicht am Coronavirus – sie verhungern. Hier zeigt sich: die Auswirkungen einer globalen Krise treffen wieder einmal die Ärmsten am heftigsten.

Weltkirche bedeutet dreierlei: wir sind eine Lerngemeinschaft, eine Solidargemeinschaft und eine Gebetsgemeinschaft.  Das ist auch meine Hoffnung, dass Solidarität bleibt, dass man aber auch etwas aus dieser Krise lernt.

Vielfach war in den vergangenen Monaten davon die Rede, die Krise als Chance zu begreifen – sehen Sie das ebenso?

Am Anfang der Corona-Krise hatte ich noch gedacht: jetzt sieht man doch, wenn man gesellschaftlich und politisch etwas will, dann kann man dem Rad in die Speichen greifen, wie es Dietrich Bonhoeffer als Auftrag für die Christen so schön formuliert hat. Dem herrschenden Diktat neoliberalen Verständnisses muss etwas anderes entgegengesetzt werden. Im Moment sieht es aber ganz danach aus, als würden die alten Egoismen, national wie lokal, wieder durchbrechen. Und das schlägt auf allen Ebenen durch. Man ist wenig bereit, über Umverteilung nachzudenken – was wurde nicht anfangs für Mitarbeiter in der Pflege geklatscht. Wenn es aber darum geht, ihnen bessere Tarife zu zahlen, dann ist das Klatschen wieder vergessen. Auch bei den Impfdosen ist man weit weg von echter solidarischer Beschaffung und Verteilung.

Aber eines ist klar: die Krise wird zweifellos zum Katalysator. Unser Verständnis von Kirche, unsere Bildungsangebote und natürlich auch die finanziellen Möglichkeiten werden nach Corona nicht mehr so sein wie davor. Als grundsätzlicher Optimist und Menschenfreund hoffe ich, dass wir diese Krise auch als Chance begreifen!

Siegfried Grillmeyer (*1969) ist seit 2008 Direktor des Caritas-Prickheimer-Hauses (CPH) in Nürnberg, der katholischen Akademie der Erzdiözese Bamberg und des Jesuitenordens, und Geschäftsführer des dazugehörigen Tagungshotels. Er hat Deutsch, Geschichte, Sozialkunde und Religion für das Lehramt an Gymnasien studiert und war bei verschiedenen Bildungsträgern im Bereich der außerschulischen politischen Jugendbildung tätig. Das „Kompetenzzentrum für Demokratie und Menschenwürde“ der katholischen Kirche in Bayern mit seinen Standorten in Nürnberg und Freising hat er mitbegründet.


Verfasst von:

Alexandra Hofstätter

Geschäftsführerin des Landeskomitee der Katholiken in Bayern.