Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: Mai-Juni 2021

Kolumne

Die Reißleine ziehen

Foto: Freefly / Adobe stock

Nur wenigen Menschen ist es vergönnt, sich in den freien Fall zu begeben, aus dem Flugzeug zu stürzen, viele Minuten der Erde entgegen zu rasen, rechtzeitig die Reißleine zu ziehen, um am Ende doch eine sichere Landung hinzulegen. Viele sind vielleicht auch ganz froh darüber, dass ihnen ein solches Abenteuer erspart bleibt.

Schon allein deshalb ist es keineswegs alltäglich, wenn der neue Erzbischof von Lyon, Olivier de Germay, einer erlesenen Truppe von Fallschirmjägern in Tarbes bei Lourdes am Rand der Pyrenäen angehörte. Dort war er Kapitän eines Fallschirmhusarenregiments und absolvierte in seiner Militärkarriere mehr als 200 Fallschirmsprünge.

1960 in Tours an der Loire geboren, der berühmten Stadt des heiligen Martin, durchlief de Germay zunächst eine Ingenieursausbildung an einer Militärhochschule in der Bretagne, bevor er 1991 nach mehreren Auslandseinsätzen in Afrika und Kuwait die geistliche Laufbahn einschlug. Die Begegnung mit Bedürftigen während seiner Militäreinsätze war wohl das Hauptmotiv für seinen Berufswechsel.

Trotz der vordergründigen Gegensätze zwischen Fallschirmspringen und Dienst am Nächsten gibt es auch erstaunliche Parallelen: hier wie dort muss bekanntes Terrain verlassen und Neues gewagt werden, hier wie dort reicht es nicht, nur den Blick von oben einzunehmen, sondern auf die nötige Erdung zu achten, und hier wie dort muss im entscheidenden Moment die Reißleine gezogen werden.

Und wenn dann noch, wie im Fall von Erzbischof Olivier de Germay, die über Jahre erprobte Fähigkeit hinzukommt, zerstrittene Gruppen wie in seiner vormaligen Diözese auf Korsika in einen gemeinsamen Dialog zu führen, können wieder Zuversicht und Glaubwürdigkeit wachsen. In seinem neuen Erzbistum Lyon wird er davon jede Menge brauchen können, nachdem hier durch seinen Vorgänger Kardinal Philippe Barbarin viel Vertrauen zerstört worden war.

Vielleicht sind es diese Fähigkeiten, die den neuen Primas von Gallien, ein Ehrentitel, der dem Erzbischof von Lyon zukommt, in die Lage versetzen, einer Diözese und einer Kirche neue Perspektiven zu vermitteln, die auf Orientierungssuche ist. Vielleicht braucht die Kirche solche Führungspersönlichkeiten, die bereit sind, Neues zu wagen und trotzdem auf ihre Erdung zu achten. Im Zweifelsfall weiß der gelernte Fallschirmspringer dann auch, wann er die Reißleine ziehen muss.


Verfasst von:

Karl Eder

Dr. Karl Eder ist Geschäftsführer des Landeskomitees der Katholiken in Bayern sowie Vorsitzender der Aktion für das Leben e. V. Er ist promovierter Liturgiewissenschaftler.