Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: Juli-August 2021

Schwerpunkt

Ökotheologie

Bild: Romolo Tavani / Adobe stock

Theologie im Umweltdiskurs

Die ökologische Krise hat eine eminent religiöse Dimension. Sie ist religionsproduktiv: Sie erzeugt eine neue Form der Frage nach dem, was unsere Existenz trägt, ihr Zukunft gibt und Sinn verleiht. Was die Menschen heute zutiefst beunruhigt ist nicht – wie etwa im 16. Jahrhundert – die Heilsangst „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“, sondern die Frage nach dem, was unser Tun vor den kommenden Generationen rechtfertigt.

Was befähigt uns individuell und kollektiv, dem öko-sozialen Burn-out unserer Zivilisation wirksam entgegenzutreten? Diese Frage ist heute ein entscheidender Ausgangspunkt für die Suche nach dem, worauf es ankommt, was zählt, und damit auch für neue Perspektiven auf die Gottesfrage.

Mit anderen Worten: Die Umweltkrise im Anthropozän ist ein „Zeichen der Zeit“, an dem sich bewähren kann und muss, ob die Theologie für unsere Gegenwart etwas zu sagen hat und ob sie Hoffnung zu vermitteln vermag. Eine Theologie der Zeichen der Zeit geht davon aus, dass es Gott selbst ist, der durch die Aufbrüche und Umbrüche der gegenwärtigen Zeit zu uns spricht und eine Antwort fordert. Die ökologische Transformation ist ein locus theologicus, ein Ort der Gottesrede heute, an dem sich die „Geistesgegenwart“ von Theologie und Kirche entscheidet. Der indischstämmige katholische Priester Raimon Panikkar spitzt dies offenbarungstheologisch zu: „Folgendes möchte ich behaupten: Die ökologische Krise stellt eine Offenbarung dar. Wenn man sie nicht als Offenbarung sieht, sieht man sie nicht genügend tief und ernst. […] Es geht nicht darum, aus der Ökologie eine Religion zu machen, sondern die Religion wird ökologisch. Dieser Unterschied ist wichtig.“

Es ist eine starke Behauptung, dass die ökologische Krise eine Offenbarung darstelle. Gemeint ist damit, dass Gott heute durch den Schrei der Schöpfung zu uns spricht, sich uns zeigt in der geschundenen Schöpfung. Die christliche Rede vom Heil der Welt wird nichtig und leer, wenn sie nicht zur Motivation und Befähigung wird, sich für die Bewältigung der ökologischen Krise einzusetzen. So wie in der Aufklärung angesichts der Verachtung des Individuums im Absolutismus die Verteidigung der unbedingten Würde des Menschen mit neuer Dringlichkeit zum unverzichtbaren Ort der Gottesrede wurde, so ist heute der Schutz der Umwelt zum Bewährungsort für den christlichen Glauben geworden. Die Schöpfung ist der Leib Gottes. In der Umweltkrise steht auch die Gottesbeziehung auf dem Spiel. Sie ist ein Zeichen der Zeit, das einen neuen Gesellschaftsvertrag fordert.

Ökologischer Humanismus

Kern der Suche nach einem zukunftsfähigen ethischen Kompass angesichts der Großen Transformation ist das Naturverhältnis unserer Zivilisation. Gerade hier besteht jedoch Bedarf an einer kritischen Aufklärung gegenüber einem sich ausbreitenden ökologischen Naturalismus, der die Werte der Natur verabsolutiert und das vermeintlich in der Natur vorfindliche Gleichgewicht idealisiert, beispielsweise als Basis eines verkürzten Verständnisses von Nachhaltigkeit. Das wäre „Ökologie als Heilslehre“ (Trepl), als „Ersatzreligion“ (Bolz). Die Natur ist jedoch eine offene Ordnung, die keine Gerechtigkeit kennt. Die Evolution wird durch Nichtgleichgewichtsprozesse vorangetrieben. Die Natur ist moralisch indifferent. Das, was als gut und sinnvoll gelten soll, ist nicht im Sinn einer Deduktion aus der Natur ableitbar. Das wäre ein naturalistischer Fehlschluss.

Von daher impliziert die christliche Schöpfungstheologie, die die Natur als gut bewertet, eine zusätzliche Dimension. Sie ist nicht einfach der verlängerte Arm ökologischer Imperative, sondern verweist auf eine kulturelle Tiefendimension der Erfahrung der Natur und des Lebens als Gabe, als ein Geschenk, das sich der beliebigen Verfügbarkeit entzieht. Sie fordert, den Subjekt-Objekt-Dualismus, der unserem wissenschaftlichen Denken zutiefst eingeschrieben ist, zu transzendieren, also Natur, Tiere und Pflanzen nicht nur als Objekte wahrzunehmen, sondern als Mitgeschöpfe.

Ich trete ein für einen ökologischen Humanismus. Dieser fordert eine neue Generation der Menschenrechte: nach den individuellen Freiheitsrechten, den sozialen Anspruchsrechten und den politischen Mitwirkungsrechten braucht es heute ökologische Existenzrechte. Nur ein solches umweltethisches Ausbuchstabieren der Menschenrechte kann verhindern, dass diese heute für einen großen Teil der Menschheit abstrakt, leer und unerreichbar werden. Das Prinzip der Nachhaltigkeit und die Sustainable Development Goals der UNO sind für mich systematisch von einer ökologischen Erweiterung der Menschenrechte her zu denken.

Lebenswissen für eine kulturelle Revolution

Die wichtigste Kompetenz der Kirchen für ökologische Verantwortung ist ethische Bildung. Diese ist ganzheitlich auf eine Integration kognitiver, emotionaler und praktischer Fähigkeiten angelegt: Bildung für Hirn, Herz und Hände. Sie ist zumindest dem Anspruch nach ein Gegenmodell zur „blinden Reflexion“, also dem folgenlosen und abstrakten Wissen, dem – so der französische Soziologe Dupuy – ein erheblicher Teil des gegenwärtigen akademischen Wissenschaftsbetriebes verfallen ist. Christliche Bildung für Nachhaltigkeit zielt auf die Einheit von Wissen und Gewissen. Die Fridays for Future-Bewegung hat einem solchen auf Transformation zielenden Verständnis von Bildung neuen Schwung gegeben. Students und Scientists for Future formulieren und praktizieren Konsequenzen für transformative Wissenschaft. Die Christians for Future könnten zur weltweiten ökotheologischen Bewegung werden, die den Kernanliegen der christlichen Umweltethik Geltung verschafft.

Die Kompetenz der Kirchen ist dabei nicht als oberste „Moralagentur“ (Joas) zu verstehen, sondern im Sinne einer „Moral jenseits des Moralisierens“ (Rahner). Diese verankert ökosoziale Zukunftsverantwortung in Erzählungen vom Selbstverständnis des Menschen und seiner Welt, den Dramen von Schuld und Vergebung, Gewalt und Versöhnung, Hass und Liebe, von Anthropologie und Kosmologie, von Hoffnung, Scheitern und Aufbruch. Es gilt, dieses Lebenswissen auf die Befähigung zur Mitgestaltung der gegenwärtigen Umbruchprozesse zu beziehen. Bildung im Anspruch christlicher Umweltethik ist eine Disziplin des Lebenswissens, die ökologische Imperative durch Erzählungen vermittelt und zugänglich macht.

Wenn sich die Umweltethik mit Erzählungen und ganzheitlicher Bildung verknüpft sowie in der Breite von Kultur und Gesellschaft vermittelt wird, hat sie durchaus ein großes Wirkungspotenzial. Als weltweite Erzählgemeinschaften können die Kirchen der Ethik Lebenskraft vermitteln. Christliche Umweltethik hat heute die Aufgabe, zu einer „kulturellen Revolution“ beizutragen, um – so Papst Franziskus in einem Erlass zur Neuordnung des Theologiestudiums – „das Modell globaler Entwicklung in eine andere Richtung zu lenken und den Fortschritt neu zu definieren.“  

Zum Weiterlesen:

Panikkar, Raimon (1996): Ökosophie, oder: der kosmotheandrische Umgang mit der Natur, in: Kessler, H. (Hg.): Ökologisches Weltethos im Dialog der Kulturen und Religionen, Darmstadt, 58–66, hier 59f.).


Verfasst von:

Markus Vogt

Professor für Christliche Sozialethik an der LMU München