Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: September-Oktober 2021

Schwerpunkt

Leben im Übergang

Foto: Jushakovsky / Adobe stock

Das menschliche Leben ist eine Abfolge von Übergängen – großen und kleinen, bedeutsamen und beiläufigen, alltäglichen und lebenswendenden. Wir leben von einem Übergang zum nächsten. Das fängt mit der Geburt an und endet (nicht) mit dem Tod. Es lohnt sich deshalb, sich mit Lebensübergängen zu beschäftigen.

Jeden Tag erleben wir Rollen-Übergänge: Beim Frühstück bin ich zum Beispiel die Mutter, die den Kindern das Frühstück und das Pausenbrot richtet und sie zur Haustür begleitet. Anschließend schlüpfe ich in meine Berufsrolle, als Arzthelferin, als Mechanikerin oder als Erzieherin, und kennzeichne das oft dadurch, dass ich die Kleidung wechsle. Am Abend gehe ich erst zu meinem Sachausschuss des Pfarrgemeinderats und bin dort die freiwillig Engagierte, die für eine frischere Gottesdienstgestaltung plädiert. Und anschließend bespreche ich als Ehefrau meinen und seinen Tag mit meinem Mann. An manchen Tagen übernehme ich auch noch die Rolle als Tochter, als Schwester, Nachbarin, Freundin …
Immer sind das Übergänge aus einer Rolle zur anderen, bei denen ich manches zurücklasse und anderes aktiviere. Im größeren Blickwinkel ist das ganze Leben eine Abfolge von Übergängen von einer Stufe zur nächsten. Warum sind Übergänge im Leben so interessant? Weil es Schwebezustände sind, Möglichkeitsräume und Zwischenzeiten. Das Vorherige ist nicht mehr und das Neue noch nicht. Übergänge sind deshalb auch „Zonen der Ungewissheit und Verwundbarkeit“. Je nach Temperament und Vorerfahrungen begegnen wir Übergängen mit Vorfreude und Neugier auf das, was kommen mag, oder ängstlich und traurig darüber, dass das Gewesene vorbei ist.

Was kommt nach dem Beruf?

Einer der inzwischen bedeutsamsten Übergänge ist der in die nachberufliche Lebensphase. Dafür gibt es mehrere Gründe:

  • Während noch vor zwei Generationen dieser Übergang überwiegend nur Männer betraf, weil Frauen meist mit der Familiengründung die Aufgaben als Hausfrau und Mutter übernommen haben, betrifft der Übergang in die Rentenphase heutzutage fast jede und jeden.
  • Im Durchschnitt erwarten die Ruheständler mehr Lebensjahre als alle Generationen zuvor. Deshalb ist die Gestaltung der nachberuflichen Jahre eine echte Entwicklungsaufgabe, für die wir noch nicht auf viele Vorbilder zurückgreifen können.
  • Nicht zuletzt kommen derzeit die „Babyboomer“ in das relevante Alter. Es sind also viele – die geburtenstarken Jahrgänge, die es als „Kinder der verbesserten Bildungschancen-Generation“ gewohnt sind, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten.

In einem breit angelegten Projekt hat die Katholische Erwachsenenbildung in der Erzdiözese München und Freising von 2016 bis 2019 Bildungsangebote entwickelt und erprobt, die diesen Übergang begleiten. Behandelt wurden Themen wie: „Versöhnt in den Ruhestand“, „Welcher Ruhestandstyp bin ich?“ oder „Was bedeutet der Übergang für eine Partnerschaft“ und einige mehr. Über die Erwachsenenbildung hinaus könnte diese Gruppe von der Kirche noch viel stärker entdeckt werden. Allgemein unterscheiden wir in der Übergängeforschung erwartbare von unerwarteten Übergängen. Der Übergang ins Rentenleben gehört ebenso zu den erwartbaren wie der vom Kindergarten- zum Schulkind oder vom Single zur Ehefrau oder zum Ehemann. Unerwartete Übergänge ergeben sich durch Trennung oder Tod oder auch durch Arbeitslosigkeit, Krankheit oder eine ungeplante Schwangerschaft. Für beide Gruppen gilt, dass man sich im Vorgriff nur sehr bedingt vorbereiten kann.

Das Fehlen von Übergängen im Digitalen

Es lohnt sich, die pandemiebedingten Erfahrungen mit Homeschooling und Homeoffice unter der Perspektive der Übergänge zu betrachten: Es kann die Situation erschweren, dass Übergänge oft fehlen. Wenn Bürotisch und Esstisch derselbe sind, dann kann es sein, dass man nicht die Rolle wechselt, sondern immer ein bisschen von allem bleibt. Das kann ungesunden Stress auslösen. Im digitalen Arbeiten selbst fehlen Übergänge ebenso. Wir sehen nicht wie im analogen Leben, dass die Türklinke heruntergedrückt wird und die Tür aufgeht, bevor jemand ins Zimmer tritt. Mit einem Klick ploppt das Bild auf – und genauso abrupt ist es mit dem Klick auf „Meeting beenden“ wieder weg. Während es im analogen, im „normalen“ Leben Zwischenmomente gibt, ist deren Fehlen charakteristisch für die digitale Sphäre. Da gibt es nur „an“ oder „aus“, „ja“ oder „nein“, „0“ oder „1“. Wir Menschen brauchen aber Übergangsmomente, damit unser Verhaltenssystem anspringen kann. Wir nehmen eine Veränderung wahr und reagieren darauf, ehe sie ganz da ist. Tatsächlich passieren häufig die wirklich berührenden Momente im Dazwischen, im „Nicht-mehr-und-noch-nicht“.

Übergänge im freiwilligen Engagement

Ein bislang wenig beachtetes Feld sind Übergänge im Zusammenhang mit freiwilligem Engagement. Doch auch in diesem Bereich treffen unsere bisherigen Überlegungen zu. Manche Menschen kandidieren sehr gezielt und bewusst für ein Ehrenamt, zum Beispiel für den Pfarrgemeinderat. Andere lassen sich überreden und sagen von sich, sie seien „wie die Jungfrau zum Kind“ zu ihrer Aufgabe gekommen. Wie wird der Übergang in das Ehrenamt begleitet?

  • Durch die Vorstellung im Pfarrgottesdienst?
  • Durch ein Mentoring durch erfahrene Mitglieder?
  • In einem Artikel im Pfarrbrief oder mit einer Seite auf der Homepage?

Und – oft noch „stiefmütterlicher“ behandelt: wie wird der Übergang aus dem Ehrenamt heraus gestaltet? Zu den Definitionsmerkmalen von freiwilligem Engagement gehört, dass man es ebenso frei auch wieder beenden darf. Wird die Entscheidung, dass jemand aufhören will, ehrlich respektiert oder versucht man, sie oder ihn zum Weitermachen zu überreden (und verschreckt dadurch möglicherweise neue Interessentinnen und Interessenten, die fürchten, nie mehr wieder loszukommen)?

Öffentlich und ehrlich gewürdigt werden soll, dass und wie jemand sich eingebracht hat – mit ihrem und seinem Tun und ebenso mit ihrem und seinem Sein. Dabei ist zu hinterfragen, ob die Anzahl der Jahre, die jemand im Ehrenamt verbracht hat, eine angemessene Kategorie für die Anerkennung ist. Ich glaube vielmehr, dass es der heutigen Vorstellung von freiwilligem Engagement mehr entspricht, wie intensiv und kooperativ sich jemand einbringt, und das unabhängig davon, ob er oder sie dies eine Wahlperiode lang macht oder viel länger. Beizeiten den Platz auch wieder frei zu machen für neue Ideen, auch das kann eine beachtenswerte Leistung sein.

Wie gehen wir mit Kandidatinnen und Kandidaten um, die nicht wieder gewählt werden? Gibt es zum Beispiel ein gemeinsames Treffen der Alten mit den Neuen, bei dem genug Zeit und Raum ist, dass die Ausscheidenden ihre Zeit Revue passieren lassen können und ihr Engagement gewürdigt wird? Um offen und frei in eine nächste Lebensphase gehen zu können, ist es gut, die vorherige innerlich und äußerlich gut abschließen zu können.

Die Übergänge ins Ehrenamt und auch wieder heraus gut zu begleiten, das ist genauso eine zentrale Aufgabe der hauptamtlichen Seelsorgerinnen und Seelsorger wie die Stärkung und Unterstützung der Freiwilligen in ihrem Wirken.

Übergangskompetenz gewinnen

Wo erwerben wir Menschen die Fähigkeit, Übergänge gut zu gestalten und zu bewältigen? Zum einen durch Vorbilder. Kinder schauen sich ganz automatisch ab, wie Mutter, Vater, Opa, Oma, Erzieherinnen und Lehrkräfte – alle Großen, zu denen sie eine positive Bindung haben – ihre Übergänge leben. Auch hier gilt das schöne Bonmot: „Man braucht seine Kinder gar nicht zu erziehen; sie machen einem eh alles nach.“

Zum anderen lernen wir aus unserem eigenen Leben. Wie haben wir frühere Übergänge bewältigt? Wer oder was hat dabei geholfen? Was hat mir nicht gutgetan und was will ich verändern? Diese Suche nach den Ressourcen, also den durch Lebenserfahrung gewonnenen Stärken, wird besonders von der Biografiearbeit unterstützt. Biografiearbeit macht jede und jeder, der sich mit diesen Fragen beschäftigt, in Tagebüchern oder rein gedanklich, oder sie mit einer Freundin oder einem Freund bespricht. Biografiearbeit ist zugleich ein sehr hilfreiches und verbreitetes Angebot in der katholischen Erwachsenenbildung. In angeleiteten Gruppen und mit lockeren und abwechslungsreichen Methoden begeben sich die Teilnehmenden auf die Spuren ihres eigenen Lebens, um ihre Lebensschätze (wieder) zu entdecken.

Damit Übergänge gelingen.


Verfasst von:

Monika Heilmeier-Schmittner

Referentin für Persönlichkeitsbildung und Familienbildung an der Domberg-Akademie Freising