Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: September-Oktober 2021

Ökumene

Hören. Schweigen. Beten

Foto: Ev.-Luth. Kirchenbezirk Leipzig

Vom 15. Januar bis zum Karfreitag diesen Jahres haben der Kirchenbezirk Leipzig, das Dekanat Leipzig und das Institut für Praktische Theologie der Theologischen Fakultät unter dem Titel „Klagezeit“ wöchentlich zum Gebet eingeladen.

„Es ist eine biblische Tradition, gerade im Alten Testament, der Klage Raum zu geben“, erklärt Gregor Giele, Pfarrer der modernen Propsteikirche St. Trinitatis in Leipzig, das Konzept. „Klage, die natürlich umso stärker wird, wenn das nicht nur eine individuelle Erfahrung ist, denn wir sind alle von der Pandemie betroffen. Jeder natürlich individuell und trotzdem in Gemeinschaft. Und das ist das klassische Modell, in dem in der Bibel die Klage laut wird und vorgetragen wird – mein Persönliches in einer insgesamt vollkommen beschissenen Situation.“

Und so feierten die Leipziger Gläubigen wöchentlich freitags im Wechsel zwischen der katholischen Propsteikirche und der evangelischen Peterskirche Gottesdienst, um ihren Sorgen Raum zu geben.

 „Wir haben uns die Frage gestellt: Was brauchen Menschen im Moment und was für ein liturgisches Format kann ihnen helfen?“, erzählt die Pfarrerin der evangelischen Peterskirche, Christiane Dohrn. Und so entwickelten sie ein Format, in dem Raum für die Nöte und Ängste der Menschen während der Pandemie war und das sowohl vor Ort als auch via Livestream im Internet wahrgenommen werden konnte.

Das geht so: in jedem Gottesdienst tragen zwei Personen ihre Klagen vor. Bei der Auswahl hatten Christiane Dohrn und das restliche Team den Anspruch, möglichst viele Bereiche des gesellschaftlichen und öffentlichen Lebens in der Klagezeit vorkommen zu lassen. „Das heißt, wir haben überlegt, welche Bereiche sind besonders betroffen, welche müssen da vorkommen? Und da reichte die Bandbreite von einer Familienmutter, die zwischen Homeschooling und Homeoffice hin und her springt, über die Leitung eines Pflegeheims, einer alleinlebenden Frau, die seit Monaten im Homeoffice ist und eigentlich niemanden trifft und zwei Jugendlichen bis zu Leuten aus der Kulturbranche.“

Eine moderne Klagemauer

Die Klagemauer in Jerusalem diente als Vorbild. Auch in Leipzig konnten die Menschen Zettel mit ihren Sorgen und Klagen beschriften und in die Ziegellöcher stecken. Foto: Ev.-Luth. Kirchenbezirk Leipzig

Zudem gab es in beiden Kirchen wie beim Vorbild in Jerusalem eine Wand, in die die Besucher Zettel mit ihren Klagen stecken konnten.

Bei den Vorträgen sei es ihnen immer besonders wichtig gewesen, die Klagen nicht zu zerreden, sondern in einem Moment des Schweigens stehen zu lassen, sagt Pfarrer Gregor Giele. „Es ging uns genau darum, dass das, was da an Bedrückendem zur Sprache kommt, so in diesen Raum und damit auch vor Gott gebracht wird, ohne dass es nochmal bewertet, umgedeutet, umgesprochen wird.“

Er ist sich sicher, dass jeder Psychologe unterstützen würde, was sie in Leipzig umgesetzt haben. Denn etwas nicht zuzulassen oder sich auf etwas anderes zu konzentrieren, ist für ihn ein Akt des Verdrängens. „Die Situation ist da, ist noch unklar im Ausgang und das macht etwas mit mir“, betont er. „Wir sind zu schnell im Verurteilen, anstatt zu sagen: Das ist die Wirklichkeit, in der wir stehen, mir geht es damit nicht gut und hier ist ein Raum, wo ich das auch ins Wort bringen darf.“

Dennoch hatten sie zuerst Probleme, Leute davon zu überzeugen, vor der Gemeinde von ihren Problemen zu berichten. „Ich will doch nicht jammern! Anderen geht es doch viel schlechter als mir“, hört Christiane Dohrn da oft. „Aber, dass Jammern und Klagen zwei verschiedene Sachen sind, das musste man immer erst erklären.“

Im Grunde genommen steht dahinter die Erwartung, dass sich schon durch das Aussprechen all dessen, was schwer und bedrückend ist und dadurch, dass es Gott hingehalten wird, etwas verwandelt. Das sieht Christiane Dohrn auch gerade in den Klagepsalmen verbalisiert: „Erst kommt eine ganze Litanei von Dingen, die schlimm, beklemmend und bedrückend sind, und dann gibt es, manchmal relativ unvermittelt, einen Umschwung: Aber du, Herr, bist ja trotzdem meine Stärke! Und die Erfahrung, die sich da in den Psalmen widerspiegelt, ist im Grunde genommen das, was hinter dem liturgischen Format Klagezeit steht.“

Dabei waren die Reaktionen sehr unterschiedlich. Die einen schienen sehr bewegt zu sein von dem, was die vortragenden Personen durchleiden, andere brachten zum Ausdruck, dass ihnen das Zuhören dabei helfe, mit den eigenen Schwierigkeiten in dieser Zeit nochmal neu und anders umzugehen. Dabei gehe es nicht um eine Relativierung, sondern darum die eigenen Erfahrungen einordnen zu können, betont Gregor Giele: „Das, was ich persönlich, alleine erlebe, steht in einem größeren Zusammenhang und ich weiß dann, es geht vielen Leuten so. Das ist ja auch eine Hilfe, dass ich in meiner Bedrückung nicht alleine bin.“

Ende der Klagezeit?

Am Karfreitag haben sie die Zettel zu einem vorläufigen Abschluss aus der Klagewand genommen. „Wir waren überrascht, wie viele das waren. Aber wir haben sie nicht gezählt“, erzählt Christiane Dohrn. Bleibt die Frage, wohin mit all den Klagen? Verbrennen wollten sie sie nicht, „die Probleme lösen sich ja nicht einfach in Rauch auf.“ Schließlich haben sie die Zettel an der Kirchenmauer der Peterskirche eingegraben. Auch das Vergraben ist eine Praxis, die sie aus Jerusalem abschauen konnten. Dort werden an bestimmten Tagen die Klagen aus der Wand gekratzt und unter Gebeten eingegraben. Aber ist die Klagezeit damit wirklich zu Ende?

Für Gregor Giele auf keinen Fall, dem während der Pandemie noch einmal klarer geworden ist, wie wichtig es ist, sich auch in der Seelsorge an die Situation anzupassen, sei es durch Betreuung per Telefon, vielleicht sogar per E-Mail oder Zoom. Er sieht gerade in Bezug auf das Thema „Einsamkeit“ während die Corona-Pandemie viel zu tun – auch oder vor allem, weil es eine riesige Hemmschwelle gibt, das eigene Alleinsein anzusprechen. „Das ist absolut tabuisiert, aber in Großstädten natürlich ein Riesenproblem! Ich habe auch gelernt, dass Einsamkeit nicht nur ein Singleproblem ist, sondern ich kann auch in einer Familie oder einer Partnerschaft einsam sein. Also da gäbe es einen großen Bedarf, aber wie gesagt eine persönliche Hemmschwelle, das zum Thema zu machen.“

Dabei sieht er die Schuld aber auch ganz klar bei den Kirchenvertretern selbst: „Wir haben einen erheblichen Schaden angerichtet, indem wir immer den Eindruck erwecken, dass wir für die Seelsorge keine Zeit haben, weil wir immer mit irgendeinem anderen Zeug beschäftigt sind, Verwaltungsthemen und sowas, sodass viele inzwischen auch eine Scheu haben, Seelsorge bei uns zu erwarten oder abzufragen. Wie oft muss ich jetzt sagen: Hören Sie mal, die Seelsorge ist mein Kerngeschäft und ich habe dafür immer Zeit!“

Doch auch in dieser Hinsicht war die Klagezeit für ihn ein Erfolg. „Zwei Leute haben sich direkt im Anschluss an die Klagezeit an mich gewendet und um ein Gespräch gebeten.“


Titelfoto: Das ökumenische Angebot in Leipzig wurde gut angenommen.


Verfasst von:

Sarah Weiß

Freie Autorin