Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: November-Dezember 2021

Interview

Den Menschen sehen

Foto: Dieter Mayr / KNA-Bild

Mit Sorge sieht Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) München und Oberbayern, den Antisemitismus in Deutschland und Europa wieder wachsen. Die gesellschaftlichen Gräben, die nicht zuletzt die Corona-Pandemie aufgerissen habe, seien längst noch nicht wieder zugeschüttet. Mut macht ihr dagegen, dass die Religionen heute eng zusammenarbeiten und dass es Menschen gibt, die sich ehrlich und engagiert für das Judentum einsetzen.

Gemeinde creativ: Dieses Jahr steht unter dem Leitwort „1700 Jahre jüdisches Leben in Bayern“ – ein Grund zum Feiern?

Charlotte Knobloch: Es ist in jedem Fall ein Grund, dass diese Themen mehr in die Öffentlichkeit kommen. Feiern kann ich aber erst, wenn ich weiß, wie das von der Gesellschaft akzeptiert wird. Für unsere Gemeinschaft ist es wichtig, dass die Menschen wissen, dass es jüdisches Leben schon vor 1700 Jahren im heutigen Deutschland gegeben hat. Dieses Wissen ist eine wichtige Grundlage für ein vertrauensvolles Zusammenleben. Ich bin schon oft gefragt worden, über welches Meer ich denn gekommen sei. Dass Juden schon seit Jahrhunderten in unserem Land leben, ist vielen Menschen nicht bewusst – dieses Themenjahr ist eine große Chance, das zu ändern.

Wie begehen Sie in der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) München und Oberbayern dieses Jubiläum?

Eigentlich wollten wir wirklich das ganze Jahr über mit Veranstaltungen und Projekten präsent sein, aufgrund der Pandemie konnten wir leider erst im Sommer damit starten. Der Auftakt am St.-Jakobs-Platz in München fand unter reger Beteiligung der Bevölkerung statt. Dort gibt es auch eine Freiluftausstellung, die sehr gut angenommen wird. Ich beobachte viele Menschen, die an den Infotafeln stehen bleiben und sich Zeit nehmen, das freut mich.

Wir versuchen natürlich auch, an den jüdischen Festen Akzente zu setzen. Ganz besonders wollen wir dieses Jahr zu Chanukka noch einmal die Öffentlichkeit ansprechen, mehr noch als in den letzten Jahren. Wir wollen dafür möglichst viele Menschen zusammenholen und gemeinsam die jüdische Tradition feiern – hier in München, in unserer Heimatstadt.

 

Die katholische Kirche ist durch ihre Bauwerke, aber auch durch ihre Feste wie die Fronleichnamsprozession, Bittgänge oder das Läuten der Kirchenglocken nach außen hin sichtbar und präsent – wo finden sich im Alltag Spuren jüdischen Lebens in Bayern?

Wir versuchen, rauszugehen, uns sichtbar zu machen, damit die Leute merken, dass wir hier sind. Das funktioniert noch nicht so gut, wie ich mir das wünschen würde. Sicher, die neue Synagoge am St.-Jakobs-Platz, mitten im Zentrum von München, mit dem Jüdischen Gemeindezentrum nebenan, das war ein großer, ein wichtiger Schritt.

Vor dem Holocaust war das Judentum viel sichtbarer als heute. Es gab jüdische Krankenhäuser oder auch ein jüdisches Restaurant hier in München, in dem man Wochen vorher einen Tisch bestellen musste und das auch bei nicht-jüdischen Menschen sehr, sehr beliebt war. An solche Orte erinnern heute nur noch Plaketten oder Infotafeln, viele dieser Orte, unter anderem auch die damalige Synagoge, sind aus dem Stadtbild verschwunden. Was bleibt, sind Denkmäler und Erinnerungsorte. Ich bin froh, dass wir heute wieder eine Synagoge im Herzen der Stadt haben, die man wie ihre Vorgängerin zusammen mit dem Wahrzeichen Münchens, den Türmen der Frauenkirche, in einem Bild sieht. Für die Hilfe der Stadt München, ohne die sich dieses Vorhaben nicht hätte verwirklichen lassen, bin ich jeden Tag dankbar.

Seit einigen Jahren ist ein wachsender Antisemitismus zu beobachten, wie schätzen Sie die momentane Situation ein?

Der Antisemitismus ist nicht in Deutschland erfunden worden. Es gibt ihn überall auf der Welt, sogar in Ländern, in denen es gar keine Juden gibt. In den vergangenen Jahren hat sich die Situation gerade auch in Europa wieder verschärft. Die jüngere Generation der Juden hier überlegt sich inzwischen, ob Deutschland noch der richtige Ort für eine jüdische Familie ist und ob ihre Kinder hier eine Zukunft haben – da läuten bei mir alle Alarmglocken.

Nach 1945 hat sich das jüdische Leben hier langsam wieder erholt. Man muss sehr darauf achten, dass all diese Schritte jetzt nicht wieder zunichte gemacht werden. Heute wissen wir: der Antisemitismus war nie wirklich weg. Aber er lag in den vergangenen Jahrzehnten unter einer Decke des Schweigens. Jetzt ist er – gemeinsam mit anderen problematischen Strömungen – plötzlich wieder „salonfähig“ geworden. Das macht mir große Sorgen.

Was ist aus Ihrer Sicht notwendig, um dem wachsenden Antisemitismus zu begegnen?

Es ist merkwürdig: je positiver man über jüdische Gemeinden spricht oder berichtet, desto mehr schlägt sich das in antisemitischen Tendenzen nieder. Antisemitismus findet sich heute in gesellschaftlichen Bereichen, in denen das früher nie ein Thema war. Ein großes Problem ist in meinen Augen der Hass im Netz. Das Internet macht eine schnelle Verbreitung von Hassbotschaften und falschen Informationen möglich, dagegen können wir als kleine Gemeinden wenig ausrichten, es ist ein Kampf gegen Windmühlen. Wir müssen daher vor allem schauen, dass die jungen Generationen politisch erzogen werden, um dem Antisemitismus erst gar keinen Nährboden zu lassen.

Was könnten Schulen dazu beitragen, dass schon Kinder und Jugendliche mehr für das Thema sensibilisiert werden?

Hier hat sich in den vergangenen Jahren viel getan. Ich selbst bin schon lange in Schulen unterwegs und ich merke, dass der Zugang zu den jungen Leuten heute ein anderer ist. Die Jugendlichen sind sehr interessiert an diesen Themen. Aber: wir müssen noch viel früher ansetzen, nicht erst bei den weiterführenden Schulen, sondern schon im Kindergarten und der Grundschule. Die Liebe zum eigenen Land muss man schon den Kleinsten vermitteln, nur dann werden sie später auch bereit sein, Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen und auch für Minderheiten und Schwächere eintreten. 2015 habe ich mich dafür eingesetzt, dass Menschen in Not bei uns eine Heimat finden können, jetzt gerade erst für die Menschen in Afghanistan. Ich würde mir wünschen, dass mehr Menschen ihre Stimme für uns Juden erheben. Sicher, es gibt Menschen, die das tun, aber es ist nicht die Masse.

Das vergangene Corona-Jahr hat vielerlei Verwerfung gezeigt. Wie kommen wir gesellschaftlich wieder zu einem guten Miteinander?

Ich bekomme viele negative Zuschriften – hasserfüllte Mails, Briefe, Beleidigungen. Aber ich bekomme auch sehr viele aufmunternde Botschaften, das tut wirklich gut und zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Ich denke, dass viele Kinder und Jugendliche, Meinungen und Stimmungen Zuhause aufschnappen. Die Frage ist natürlich immer, wie wir diese Gruppen erreichen.

Die gesellschaftlichen Gräben, die sich während der Pandemie aufgetan haben, sind längst noch nicht wieder zugeschüttet. Die Folgen der Corona-Krise sind noch nicht einmal absehbar. Hier wartet Arbeit auf uns alle. In der Pflicht sehe ich daher vor allem auch die Politik, und zwar parteiübergreifend. Wir brauchen nicht noch mehr Sonntagsreden, wir brauchen Erfolge und Menschen, die für uns eintreten. Unsere Politikerinnen und Politiker müssen deutlich machen, dass der Antisemitismus in unserer Gesellschaft keinen Platz hat. Die Worte stimmen hier bereits, bei den Taten gibt es immer noch Luft nach oben.

Wie sieht es mit interreligiösen Projekten vor Ort, auf der Ebene der Gemeinden, aus?

Ich wurde 1982 in den Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde gewählt. Da gab es nur sehr wenige interreligiöse Beziehungen. Klar, man wusste voneinander, man sprach auch ab und an miteinander, aber wirkliche Berührungspunkte waren selten. Heute gibt es enge Verbindungen zwischen den Religionen. Man kennt sich, man findet sich sympathisch und man will gemeinsam Positives leisten. Ich bin sehr froh, dass sich das in den vergangenen Jahrzehnten so gut entwickelt hat.

Es gibt immer wieder Themen oder Punkte, in denen man geteilter Meinung ist. Aber das Verhältnis zwischen dem Judentum und den christlichen Religionen ist inzwischen so gefestigt, dass man im Dialog zu gegenseitigem Verständnis kommt. Das gilt auch für uns hier am St.-Jakobs-Platz, mit unseren christlichen Nachbarn, zum Beispiel vom Angerkloster.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Dass die Menschen in Freiheit leben können. Dass die Menschen den Wert der Demokratie begreifen, dass sie sich mit der Vergangenheit befassen und erkennen, was es bedeutet, wenn die Demokratie mit Füßen getreten wird. Ich wünsche mir: Normalität. Eine Gesellschaft, in der nicht die Religion den Ausschlag gibt, nicht die Hautfarbe oder irgendein anderes Merkmal. Dass ich nicht den Glatzköpfigen sehe, den Schwarzen, den Juden oder den Deutschen, sondern einfach nur den Menschen – so wie er ist.

 

 

 

Dr. h.c. Charlotte Knobloch (Jahrgang 1932) ist seit 1985 Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern und war von 2006 bis 2010 außerdem Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland. Von 2005 bis 2013 war sie Vizepräsidentin des Jüdischen Weltkongresses (WJC), seit 2013 ist sie dort als Commissioner for Holocaust Memory tätig. Von 2003 bis 2010 war sie zudem Vizepräsidentin des Europäischen Jüdischen Kongresses (EJC).

Während ihre Großmutter, die ihren Vater Fritz Neuland bei ihrer Erziehung unterstützt hatte, ins KZ Theresienstadt verschleppt und dort ermordet wurde, überlebte Charlotte Knobloch als Kind den Holocaust: Eine ehemalige Hausangestellte ihres Onkels, Kreszentia Hummel, versteckte sie auf ihrem Bauernhof in Franken und gab sie bis zur Befreiung 1945 als ihr eigenes Kind aus.


Verfasst von:

Alexandra Hofstätter

Geschäftsführerin des Landeskomitee der Katholiken in Bayern.