Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: November-Dezember 2021

Schwerpunkt

Die Bereitschaft, andere Fragen zu stellen

Bild: Kateryna Kovarzh / Adobe stock

In einer bayerischen Stadt haben sich Experten und Expertinnen des Dialogs an einem Tisch zusammengefunden. Sie alle wurden eingeladen, um die Ausrichtung einer dialogorientierten christlichen Institution mitzugestalten. Dafür sollen sie ihre Expertisen aus dem Dialog, insbesondere mit Menschen muslimischer Lebenswelten einbringen. Gemeinsam wird ein inhaltliches Ziel formuliert, dass die zukünftige Arbeit der besagten Institution in eine produktive und wirkungsentfaltende Richtung weisen soll. Das Gespräch zwischen ihnen beginnt sehr verhalten.

An einem Punkt wird ein Erfahrungswert durch einen christlichen Experten skizziert. Seiner Wahrnehmung nach bleiben die muslimischen Partner den abendlichen Expertenvorträgen fern. Der Experte kann auf eine bestimmte Anzahl von Veranstaltungen dieses erwähnten Formats zurückblicken und stellt fest, dass die ihm bekannten muslimischen Ansprechpartner nicht anwesend waren. Als Gesprächspartner vertraue ich dem Kollegen und seiner Feststellung, die auf seinen persönlichen Erfahrungen beruht. Gleichsam stelle ich fest, dass bei der Darstellung der Experte emotional zwischen einer gewissen Frustration und Resignation changiert.

Gerade weil für mich ein Konflikt sichtbar wird, möchte ich von dem christlichen Dialogpartner wissen, welche Zielgruppe zu den erwähnten Abendveranstaltungen „normalerweise“ erscheint. Der Experte beschreibt dabei eine Klientel, die sich durch ihren Bildungshintergrund und sozialen Status auszeichnet und im Allgemeinen als „Bildungsbürger / Arivierte“ zu klassifizieren wäre. Nach diesem gemeinsamen Befund frage ich erneut den Ansprechpartner, wie die muslimische Zuhörerschaft zusammengesetzt ist und ob diese Ähnlichkeiten mit der beschriebenen Klientel aufweist. Der Experte verneint. Bei den muslimischen Ansprechpartnern handle es sich dabei um aktive Laien – Ausnahmen mitgedacht – die zwar einen hohen Aktivismus aufzeigen, jedoch nicht dem bildungsbürgerlichen Paradigma entsprechen.

Interkulturelle Fragen

Aufgrund der von mir wahrgenommenen Frustration des Experten, stellt sich somit die Frage mit welchen Prämissen dieser Partner in den Dialog gegangen ist bzw. auf welcher Grundlage er die Veranstaltungen mit den Expertinnen und Experten geplant hat. Gerade weil diese Abendveranstaltungen für eine „bildungsbürgerliche“ Klientel ausgelegt sind, wären im Besonderen die eigenen Vorannahmen zu überprüfen. Angesichts der von ihm umgesetzten Formate ist davon auszugehen, dass jener christliche Experte Dialog als einen bildungsbezogenen Akt wahrnimmt.

Das Gespräch unter Menschen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit wird damit nicht nur in interkultureller/interreligiöser Hinsicht zu einer Herausforderung, sondern auch bezüglich des unterschiedlichen Bildungskapitals und den daraus resultierenden Erwartungshaltungen der Dialogpartner zu einer intellektuellen Frage.

 

Das "dialogische Gegenüber"

Obgleich ein intellektueller Anspruch im „Dialograum“ zwischen den Dialogpartnern besteht, wird oft nicht überprüft, ob die Voraussetzungen dafür gegeben sind, dass die eigenen Erwartungen erfüllt werden. Wenn dies nicht geschieht, dann produzieren Dialoge unweigerlich (teils produktive) Konflikte. Als eine Konsequenz dieser Konflikte vergegenwärtigen sich bei den Beteiligten entsprechende Frustrationen. Mitunter wird von den Dialogpartnerinnen und -partnern geäußert, der Dialog sei „eingeschlafen“, „komme nicht voran“ bzw. das dialogische Gegenüber hätte „kein Interesse“ mehr. Die Wahrnehmung mag richtig sein, doch oftmals wird nicht (gemeinsam) eruiert, warum diese Gefühle sich ausbreiten.

Dementsprechend sind bestimmte Fragen zu stellen und Vorannahmen mitzudenken, damit der Dialog im Sinn der Beteiligten „erfolgreich“ ist. Einerseits meint „erfolgreich“ zu sein einen dynamischen und wechselseitigen Austausch zu generieren und andererseits durch eine transparente Kommunikation die eigenen Erwartungen in ein realistisches Verhältnis zu setzen. Die Dialogbeteiligten sollten sich daher bewusst vor Augen führen, für welchen Dialog eine persönliche (innere) Bereitschaft besteht. Dafür ist es geboten, die Frage nach dem dialogischen Gegenüber zu stellen. Die Frage nach, „Wer ist mein dialogisches Gegenüber?“ meint an dieser Stelle nicht nur zu wissen, wie dieses Gegenüber heißt, welche religiöse Zugehörigkeit und womöglich welche Migrationsbiographie diese Person hat. Angesichts der gesellschaftlichen Heterogenität ist darüber hinaus zu fragen, welchem Milieu diese Person angehört. Diese Frage ist von allen Beteiligten zu stellen, denn durch diese erste, aber nicht abschließende, „Einordnung“ wird den Beteiligten ermöglicht, ihre eigenen und die Erwartungen des Gegenübers zu erkennen, zu vergleichen, Gemeinsamkeiten und Differenzen herauszuarbeiten und sie auf ihre Umsetzbarkeit hin zu prüfen.

Sodann kann die „Einordnung“ des dialogischen Gegenübers möglicherweise zu einem ersten Ergebnis führen, welches eine gewisse Unvereinbarkeit des erwarteten Dialogs aufzeigt. Einerseits kann diese Unvereinbarkeit zu einer Absage des Dialogs führen, weil die eigenen Erwartungen nicht als erfüllbar erscheinen. Andererseits können die Erwartungen nochmals reformuliert werden, sodass Lerneffekte und neue Themen für alle Beteiligten erschlossen werden können.

 

Neue Fragen

Die Bereitschaft andere Fragen zu stellen, kann beispielsweise den Dialog von der intellektuellen Ebene auf eine Erfahrungs- und Motivationsebene tragen und Lerneffekte (neue Vorstellungen zu Frömmigkeit) auch für christliche Expertinnen und Experten produzieren. Überdies kann aktuell im Feld des interreligiösen Dialogs zum Beispiel beobachtet werden, dass durch die Anwesenheit von Muslimen, die aufgrund von Migrationsbiographien oft fremdmarkiert werden, das Thema Rassismus stärker im Fokus steht. Christliche Partnerinnen und Partner werden mit den Alltags- und Diskriminierungserfahrungen des dialogischen Gegenübers konfrontiert und sehen sich – teils in kritischer Solidarität – dazu aufgefordert, Stellungnahmen aus ihrer christlichen Haltung heraus zu formulieren.

Diese thematische und teils habituelle Befruchtung geschieht dabei wechselseitig, sodass innerhalb muslimischer Lebenswelten Themen ausgehandelt werden, die in christlichen Vergemeinschaftungen bereits vielfach diskutiert wurden. Trotz unterschiedlicher Erwartungshaltungen und Voraussetzungen können durch die Dialogpartner gemeinsame strategische Ziele formuliert werden. Dergestalt wird der „Dialog als symbolischer Akt“ zu pflegen sein, damit Narrative des konfliktarmen bzw. missverständnisarmen Zusammenlebens von religiös motivierten Menschen gemeinsam in die Öffentlichkeit getragen werden können.

Solchermaßen veranschaulicht die pluralistische und säkulare Einwanderungsgesellschaft mit ihrer inhärenten Komplexität und Dynamik, dass allgemeingültige Vorstellungen von Werten, Bildung, religiöse Zugehörigkeit, Vergemeinschaftungen und Kommunikation sich wandeln. Insbesondere verdeutlichen die hyperindividualisierten Auffassungen von Lebensgestaltung, dass es wohl zu Veränderungen in den bisherigen Dialogbemühungen führen wird. Solchermaßen wird zu eruieren sein, ob die weiterhin aktuellen Vorstellungen und Formate von Dialog aufrechtzuerhalten sind. Nichts desto trotz kann das Wissen um die Heterogenität der Dialogpartner ein Hinweis dafür sein, neue Fragen zu stellen, Themen gemeinsam anzugehen und Formate zu finden, die (auch) außerhalb von gedachter Bürgerlichkeit registriert werden. Erst diese Bereitschaft, „neue Fragen zu stellen“, kann Impulse für Alle denken.


Verfasst von:

Erdorgan Karakaya

Islamwissenschaftler und ehrenamtliches Mitglied der akademischen Steuerungsgruppe des Theologischen Forum Christentum-Islam der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart