Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: November-Dezember 2021

Schwerpunkt

Extremismus unter'm Kirchendach?

Foto: Scerpica / Abobe stock

Wie rechte Strukturen die Religion für ihre Zwecke missbrauchen – und warum ein offenes Gespräch ein wichtiger Lösungsschritt sein kann.

Die gute Nachricht gleich vorneweg: entgegen der landläufigen Meinung werden rechte Einstellungen in der Bevölkerung weniger. Das ist zumindest die Einschätzung von Martin Becher, der die Projektstelle gegen Rechtsextremismus im Evangelischen Bildungs- und Tagungszentrum Bad Alexandersbad leitet und Geschäftsführer des Bayerischen Bündnis für Toleranz ist. Das macht das Problem aber nicht kleiner, denn zwar werden die Leute, die ein geschlossen rechtsextremes Weltbild haben, weniger, aber ihre Aktionsformen haben sich dafür unglaublich ausdifferenziert:

Terroristische Strukturen radikalisieren sich in Netzgemeinden, die Kommunikationsformen haben sich verändert. „Das Problem ist in keiner Form zu unterschätzen, aber man darf sich nicht ins Bockshorn jagen lassen“, betont Martin Becher. Es gehöre zur Erzählung von ganz rechts außen, dass sie den Eindruck erwecken wollen, sie wären ganz viele und ganz bedeutsam. „Und es ist schon eine Frage, ob wir diese Erzählung übernehmen und damit dieser Deutung noch mehr Gewicht verleihen.“

 

Aktionsbündnisse wie das Bayerische Bündnis für Toleranz gibt es auch in anderen Bundesländern. Hier das Pendant aus Brandenburg. Foto: BAG K+R

Rechts außen verwendet Martin Becher dabei als Sammelbegriff für Terrorismus, Extremismus, Populismus, aber auch die „Neue Rechte“, die als intellektuelle Struktur versucht, auf Meinungsbildung und Wissenschaft einzuwirken. Menschen mit einer rechten oder rechtsradikalen Gesinnung werden also nicht mehr, dafür aber deutlich radikaler und sie sind viel besser vernetzt. Und sie treten in stärkeren Organisations- und Aktionsformen auf, die dann letzten Endes zu terroristischen Anschlägen führen können.

Extreme und kirchliches Leben

Von diesen Entwicklungen sind auch die Kirchen betroffen, weil besonders die Themen Gender, Homosexualität, frühkindliche Sexualerziehung oder Islam Schnittmengen mit konservativeren Menschen aus dem kirchlichen Bereich ergeben. Und dann kommt das zum Einsatz, was Martin Becher als „Staubsaugerpolitik“ bezeichnet: „Die von rechts außen gucken, wo sind Menschen bei bestimmten Fragestellungen unterwegs und wie können wir möglichst viele wie mit einem Staubsauger durch ein Thema einsaugen und für unsere Zwecke andockungsfähig machen.“ Der Fokus liegt hier nicht darauf, Probleme zu lösen oder Dinge zu klären, sondern es geht nur darum, die Empörung oder die Unzufriedenheit, die bereits vorhanden ist, hochzuhalten.

Zusätzlich greifen rechte Strukturen auch auf kirchliche Formate und christliche Symbole zurück. Dazu führen sie auch Gottesdienste durch. Als nicht geschützter Begriff kann das „Format Gottesdienst“ also auch für rechte Propaganda oder Coronaleugner missbraucht werden.

Ebenso das Kreuz, das neben seiner christlichen Bedeutung auch Heimat und Identität symbolisiert. Ein Aspekt, den sich zum Beispiel die Identitäre Bewegung zu Nutze macht, wenn sie ein Kreuz auf einem Berggipfel aufstellt und es dazu missbraucht, sich so als identitätsstifte Organisation zu positionieren. Rechte Organisationsformen verleiben sich also christliche Symbole ein, um dadurch mehr Glaubwürdigkeit zu bekommen. Die christlichen Symbole werden damit zu hohlen Hüllen. Sie werden als Gegensymbole zum jeweiligen Feindbild genutzt. Aufgabe der Kirchen muss es hier sein, sie so sehr mit Leben zu füllen, dass man sie nicht als leere Hüllen missbrauchen kann. Hier appelliert Martin Becher daran, sich immer wieder selbst zu hinterfragen: Ist es zum Beispiel als Kirche noch angebracht, vom Christlichen Abendland zu sprechen? Eine Bezeichnung, die durch ihre Verknüpfung mit den Kreuzzügen natürlich antisemitische und antimuslimische Züge hat. Die Begriffskritik impliziert die Frage nach dem eigenen Selbstverständnis. Und hier muss sich die katholische Kirche in ihrem Verständnis als Weltkirche klar machen: Sind das noch unsere Symbole oder haben sie sich gesellschaftlich abgenutzt, weil sie keine Trennschärfe mehr haben?

Ideologie vs. Theologie

Als dritte Strategie, die die rechten Strippenzieher nutzen, um Leute an sich zu binden, dient die Einbettung der eigenen Ideologie in einen theologischen Kontext. „Wir stellen fest, dass die Neue Rechte sehr stark anfängt, theologisch zu argumentieren. Auch der Nationalsozialismus hat sich als Religion verstanden. Die haben versucht, ein deutsches Christentum zu etablieren“, sagt Martin Becher. Zu beobachten sei das beispielsweise in deren Publikationen, unter anderem der Zeitung Junge Freiheit. Da er eine Zunahme dieser Herangehensweise wahrnimmt, betont er, dass man rechte Ideologien nicht verstehen kann, wenn man sie nicht auch aus theologischer Perspektive kritisch gegenliest. Dabei argumentieren die Neuen Rechten gerne apokalyptisch: Der Muslim stehe vor der Tür, daher befänden wir uns im Endkampf. Sie wähnen sich also in einer Position, in der sie vom Fremden überrannt werden und setzen dem einen nie explizit formulierten Aufruf zur Gewalt entgegen, den sie theologisch einkleiden.

Eine wichtige Institution, die sich mit diesem Thema auseinandersetzt, ist die Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus (BAGKR), bei der Martin Becher einer von sieben Sprecherinnen und Sprechern ist. Ihre Zeitschrift Einsprüche befasst sich mit der Theologie der Neuen Rechten. Die enorme mediale Resonanz auf die Zeitschrift spricht für die Relevanz des Themas. In der Praxis sieht Martin Becher auf kirchlicher Seite bei diesem Thema insbesondere die Pfarrerinnen und Pfarrer in der Verantwortung. Sie müssen dechiffrieren, was geschrieben wird und wie sich die Rechten versuchen zu positionieren.

 

Ausgrenzung ist keine Lösung

Entsprechend schwieriger ist der Umgang mit Menschen innerhalb der Kirche, die durch die eben genannten Punkte in ihrem Menschenbild zu weit nach rechts außen abgedriftet sind. Hier muss die Kirche eine deutliche Grenze ziehen: Wo verlassen wir die Menschenfreundlichkeit, wo verlassen wir die Gottebenbildlichkeit des Menschen, wo werden Menschen auf Grund ihrer Zugehörigkeit ausgegrenzt, wo werden sie angegriffen, diskriminiert? „Umgekehrt haben wir als Kirche nichts davon, wenn wir rechts orientierte Menschen ausgrenzen, denn sie sind trotzdem da und organisieren sich dann eben anderweitig“, findet Martin Becher. Für ihn ist es der größte Gewinn, möglichst viele Menschen in den Kirchen zu halten und dafür zu sorgen, dass sie sich dort respektiert fühlen, aber gleichzeitig deutlich zu machen, dass es Grenzen gibt, wo Menschen feindselig behandelt werden.

 

„Hass schadet der Seele“ – mit dieser Plakataktion an religiösen Gebäuden zeigt man, dass Glaube, Religion und Toleranz zusammengehören. Foto: Marc Brinkmeier / BAG K+R

Hier sollte die Kirche in der Lage sein, den Diskurs zwischen den einzelnen Gruppen zu organisieren, wünscht sich Martin Becher, der die Idee bereits seit drei Jahren im Seminarformat Perspektivwechsel verfolgt, bei dem sich Polizistinnen und Polizisten sowie Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Demonstrationen gegen Rassismus über ihre jeweilige Wahrnehmung des Ablaufs austauschen. Sich gegenseitig zuzuhören ist wichtig, um die andere Seite in ihrer Gefühlswelt, in ihrem Herkommen, in ihren Werten zu verstehen und die Gräben nicht zu tief werden zu lassen – und Becher betont: „Verstehen heißt noch nicht Verständnis und Verständnis heißt noch nicht Zustimmung.“ Der Effekt sei enorm, das einzige Problem bestehe darin, dass man „die richtigen Hardcore Leute nicht zusammen kriegt.“

Aber auch im kirchlichen Rahmen ist so ein Austausch denkbar, bei dem Menschen sich darüber verständigen können, wie es ihnen mit bestimmten Fragen geht, um über den eigenen Tellerrand zu blicken und den eigentlichen Kern von Gesellschaft und Kirche nicht zu verlieren: „Wir machen uns zu wenig bewusst, was uns allen gemeinsam ist, was uns gemeinsam ausmacht. Gerade als Kirchen täte es uns gut, mit gutem Beispiel voranzugehen und zu sagen: Wir schaffen es, dass dieser Diskurs stattfindet. Sodass wir darüber auch mal wieder eine Ahnung haben: Was ist denn eigentlich der Kern, der uns verbindet?“

 


Verfasst von:

Sarah Weiß

Freie Autorin