Ausgabe: November-Dezember 2021
KommentarIm Spannungsfeld
Der Dialog zwischen den Religionsgemeinschaften erinnert an Strukturen und Verfahren, die aus der Demokratie bekannt sind. Anstatt auf das Recht des Stärkeren, Zwang oder Gewalt setzt die Volksherrschaft auf Diskussion, Gedankenaustausch, Konsens- und Kompromissfindung sowie insgesamt auf die überzeugende Kraft des Wortes. Zwar geht es im interreligiösen Dialog anders als im demokratischen Parteienwettstreit nicht um die Verteilung von Macht zwischen Regierung und Opposition oder die Genese und Organisation kollektiv verbindlicher Entscheidungen. Gleichwohl sind religiöse Gruppen, die sich wechselseitig als Dialogpartner im Dienst eines geteilten Anliegens empfinden und behandeln, als demokratische Akteure zu verstehen, die sich allen Gegensätzen zum Trotz als Teile eines großen Ganzen respektieren. Was daher – nach Hermann Heller – die Substanz der Demokratie ausmacht – fair play für andere, Vertrauen in die etablierten Institutionen sowie „ein Wir-Bewusstsein und -Gefühl, in dem die vorhandenen Gegensätzlichkeiten und Interessenkämpfe gebunden erscheinen“, kann ebenso als gemeinsame Identität der Religionen gelten: Einheit in der Vielfalt.
Dies ist umso mehr zu verdeutlichen, als pluralistische Demokratien heute zunehmend von destruktiven Polarisierungen und der Erstarkung extremistischer Kräfte herausgefordert werden. Wer alles im Zeitalter der Globalisierung, der Digitalisierung und des Klimawandels (angeblich) miteinander im Clinch liegt, ist kaum zu überblicken: Arm vs. Reich, Jung vs. Alt, Stadt vs. Land, Ost vs. West, Einheimische vs. Migranten, Weiße vs. People of Colour, Anywheres vs. Somewheres, Geimpfte vs. Impfgegner. Angesichts der (konstruierten) Spaltung der Gesellschaft, die sich entlang solcher holzschnittartigen Dichotomien zu verfestigen droht, ist es umso wichtiger, dem spätestens seit Huntington populären Vorurteil entgegenzuwirken, gerade die (Welt-)Religionen seien als inkommensurable Denk- und Wertesysteme Exponentinnen eines globalen Kulturkampfs.
Die bekannte Anfälligkeit religiöser Identitäten, für die Beschleunigung und Verstetigung sozialer und politischer Konflikte instrumentalisierbar zu sein, darf in diesem Kontext nicht darüber hinwegtäuschen, dass Gläubige unterschiedlicher Konfessionen ganz grundsätzlich viel mehr verbindet als trennt, insbesondere im Vergleich zu säkularen Menschen. Offener Dialog und Gesprächsbereitschaft zwischen den Religionsgemeinschaften weisen hier darauf hin, dass intolerante Wahrheitsverständnisse und Missionierungseifer keineswegs unüberwindbar sind und universalreligiöse Weltdeutungen partikulare Abweichungen nicht ausschließen. Darin ähneln die modernen Religionen vielmehr neuerlich der Demokratie, welche sich in ihrem ureigenen Spannungsfeld zwischen universalen und partikularen Ansprüchen bewegt.
Bei aller Bedeutsamkeit und positiver Einschätzung, die dem interreligiösen Dialog an dieser Stelle widerfährt, sollte lediglich eines nicht unter den Tisch fallen: Der Begriff selbst ist missverständlich, da er suggeriert, es müsste etwas verknüpft werden, das von seiner spezifischen Charakteristik her getrennt bleibt. Eine gewisse Ergebnislosigkeit, ja Vergeblichkeit aller Bemühungen ist dieser Form des Dialogs quasi eingeschrieben. Ratsamer wäre es, Religionen als dazu prädestiniert zu begreifen, sich miteinander ohnehin in einem ständigen Gespräch zu befinden: um sich darüber zu verständigen, dass viele Wege zum gleichen Ziel führen.