Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: November-Dezember 2021

Schwerpunkt

"Niemand soll vereinnahmt werden"

Foto: Tolin / Adobe stock

Was, wenn die Neuankömmlinge Ressentiments haben gegen Menschen anderer Religion? Werden sie ehrenamtliche Christen akzeptieren? Wird man miteinander auskommen? Das fragen sich Flüchtlingshelfer am Beginn ihrer Arbeit. Die Ängste sind unbegründet, sagt Diakon Sepp Schlecht, der sich seit fast zehn Jahren für Geflüchtete im Bayerischen Wald einsetzt. Die Religion komme zwar hin und wieder zum Tragen, sagt er. Doch sie dominiert die Arbeit nicht.

Sepp Schlecht weiß, das sich Neueinsteiger anfangs oft mit Zweifeln quälen: Werden unterschiedliche Religionen nicht früher oder später für Konflikte sorgen? „Auch wir hatten uns zu Beginn gefragt, was wir den Geflüchteten an Christlichem zumuten können“, gibt der Seelsorger aus der Pfarreiengemeinschaft Bodenmais-Böbrach zu. Mit einem etwas mulmigen Gefühl wurde zum Beispiel – noch „zu den guten Zeiten“ vor der Coronakrise – eine Nikolausfeier veranstaltet. Zum Erstaunen der Helfer strömten 65 Asylsuchende aus den Gemeinschaftsunterkünften in den Pfarrsaal. Die Feier war ein voller Erfolg: „Vor allem die Kinder wollten unbedingt mit dem Nikolaus fotografiert werden.“

Doch nicht immer fällt es so leicht, über seinen eigenen religiösen Schatten zu springen. „Gewisse Regeln muss man als Flüchtlingshelfer schon beachten“, sagt Sepp Schlecht. Der von Ehrenamtlichen des von ihm gegründeten Asylarbeitskreises (AK) angebotene Frauensprachkurs wird zum Beispiel konsequent nur von Frauen gehalten. Als sich ein Muslim, der eine Stelle in einem Gasthof gefunden hatte, standhaft weigerte, am Arbeitsplatz Schweinefleisch anzurühren, warb der Asylarbeitskreis bei seinem Chef für Verständnis. Am Ende fand sich eine Lösung, wie der junge Mann von dieser Aufgabe ohne Nachteile für den Arbeitgeber entbunden werden konnte.

Fraglos gibt es religiöse Unterschiede wie jenen, dass das Priesteramt nicht mit der Funktion eines Imam vergleichbar ist. Doch diese Unterschiede sind für Sepp Schlecht nichts Trennendes. Im Gegenteil, sagt der Theologe: „Ich habe großen Respekt vor anderen Religionen.“ Seine Arbeit sieht er im Kontext des Zweiten Vatikanums. Demnach verdienen alle monotheistischen Religionen die gleiche Achtung. „Bevor wir mit unserer Arbeit begonnen haben, haben wir uns auf Fortbildungen kundig gemacht, wie man bei unterschiedlicher Religiosität gut miteinander umgehen kann“, erzählt Schlecht. Die Mitglieder des AK wollten die Geflüchteten keinesfalls „vereinnahmen“ oder „bekehren“.

Viele sind traumatisiert

Die Traumatisierung nicht weniger Geflüchteter ist für Sepp Schlecht ein weitaus größeres Problem als die unterschiedliche Religion. Während der muslimische Glaube höchstens für Skepsis bei „eingefleischten“ Christen sorgt, können die Folgen von Traumatisierungen richtige Panik auslösen. Die Bevölkerung in Niederbayern wurde zum Beispiel im Juli durch die brutale Attacke eines Somaliers in Angst und Schrecken versetzt. Mit noch größerer Brutalität ging kurz zuvor ein Somalier in Würzburg gegen seine Mitmenschen vor. Drei Menschen starben. Nicht Religion, so Sepp Schlecht, war in diesen Fällen der Grund für die Gewalt, sondern gravierendste seelische Probleme.

Ein junger Geflüchteter drückt mit diesem Bild aus, wie unglaublich schwer es für ihn war, all jene Menschen, die er geliebt hat, in seinem Heimatland zurücklassen zu müssen. Foto: Pat Christ

Für jeden Menschen ist es schlimm, aus seiner gewohnten Ordnung herausgerissen zu werden. Geflüchtete müssen von jetzt auf nachher in einer für sie komplett fremden Kultur klarkommen. Mehr noch: Viele sind zusätzlich erschüttert durch das, was sie in ihrem Heimatland oder auf der Flucht erlebt haben. „Vor allem die Überfahrt über das Mittelmeer findet unter ganz entsetzlichen Bedingungen statt“, veranschaulicht Sepp Schlecht. Als Flüchtlingshelfer hatte es der Diakon schon Dutzende Male mit völlig verstörten Geflüchteten zu tun. „Doch dass jemand religiös aufgehetzt hierhergekommen wäre, das habe ich noch kein einziges Mal erlebt“, betont der 61-Jährige.

Religion mag in der Übergangsphase zwischen dem Ankommen und der Integration in die Gesellschaft eine gewisse Rolle spielen, meint Diakon Karl Stocker aus Ottobrunn. Doch auch er stellte fest, dass religiöse Fragen in der Flüchtlingsarbeit insgesamt kaum ins Gewicht fallen. Der 73-Jährige hat inzwischen sehr viel Erfahrung im Umgang mit geflüchteten Menschen. Bereits seit dem Jahr 2012 gibt es in Ottobrunn und in Putzbrunn zwei Asylhelferkreise. „Wir hatten vor etwa zehn Jahren mit vielleicht einem Dutzend Geflüchteter angefangen“, erzählt der Seelsorger. Zu den Hochzeiten der sogenannten „Flüchtlingswelle“ im Jahr 2015 wurden mehrere hundert Geflüchtete betreut.

Ganz konkrete Hilfe

Viele gemeinsame Erlebnisse haben Flüchtlinge und Helfer einander nähergebracht. Mehr als hundert ehrenamtlich tätige Männer und Frauen, die sich in den beiden Asylhelferkreisen engagieren, unterstützen jene Menschen, die neu nach Oberbayern gezogen sind. „Wir helfen zum Beispiel bei der Arbeitsplatz- und bei der Wohnungssuche“, schildert Karl Stocker. Dies geschieht über ein Patensystem. Eng ist die Kooperation zu einer muslimischen Organisation, die immer dann eingeschaltet wird, wenn Fragen auftauchen, die speziell den muslimischen Glauben betreffen. Auch in Ottobrunn und Putzbrunn wurden bisher zu gut 80 Prozent muslimische Flüchtlinge unterstützt und begleitet.

Menschen, die vorhaben, Flüchtlinge zu unterstützen, sollten sich nach Karl Stockers Empfehlung zumindest ein Basiswissen über jene Kulturen aneignen, aus denen die Geflüchteten kommen. In Ottobrunn geschah dies in Kooperation mit der örtlichen Volkshochschule. Es gab mehrere Infoabende über die Hauptländer der Geflüchteten – insbesondere zu Syrien. „Alles in allem kann man sagen, dass wir niemals größere Konflikte erlebt haben“, bilanziert der Diakon. Die Religion des jeweils anderen sei in den letzten zehn Jahren stets respektiert worden. „Vielleicht liegt dieses gute Miteinander daran, dass wir wirklich sehr viel beisammen sind“, sinniert Karl Stocker.

Wie hervorragend das Miteinander ist, wird sehr gut an diesem Beispiel manifest: „Eine ganze Familie aus Aserbaidschan ließ sich bei uns taufen.“ Insgesamt wurden in den vergangenen zwei Jahren etwa 15 Geflüchtete getauft. Die meisten von Karl Stocker selbst. In vielen Fällen handelte es sich um neugeborene Kinder aus Familien, in denen ein Elternteil christlich, das andere muslimisch ist. Aber auch erwachsene Muslime konvertierten zum christlichen Glauben. Überredet werden sie dazu nicht, betont Karl Stocker. In jedem einzelnen Fall sei es die völlig freie Entscheidung der Geflüchteten gewesen, sich auf die katholische Religion einzulassen.

Es dauert eine gute Weile, bis ein Flüchtling in seiner neuen Heimat Fuß gefasst hat. Das erfordert Geduld. Wie sehr die sich auszahlt, erlebt man in Putzbrunn und Ottobrunn zum Beispiel daran, dass sich inzwischen die ersten Geflüchteten im Asylhelferkreis engagieren. Das freut die Helferinnen und Helfer ungemein: Offensichtlich hat man in der Arbeit etwas sehr richtig gemacht! „Wir treffen uns alle ein bis zwei Wochen, um uns auszutauschen“, berichtet Karl Stocker. Dass nun etwa ein Dutzend Geflüchteter an den Runden teilnehmen, bereichere die Arbeit ungemein.


Titelfoto: Die einen beten in der Moschee, die anderen in der Kirche. Im alltäglichen Miteinander, schildern Flüchtlingshelfer, stört das überhaupt nicht.


Verfasst von:

Pat Christ

Freie Autorin