Ausgabe: November-Dezember 2021
SchwerpunktPerspektiven für Kinder und Jugendliche

Interreligiöses Lernen
Ob man das begrüßt oder mit Bedenken sieht: Religiöses Lernen ist in unserer Zeit immer auch ein interreligiöses Lernen. Wo man früher davon ausging, zunächst müsse sich eine Identität innerhalb der eigenen Religion ausbilden, bevor erst dann die dialogische Begegnung mit anderen erfolgen könne, wissen wir heute: Kinder und Jugendliche wachsen von Anfang an in einer religiös pluralen Welt auf.
Dass es Anders-Gläubige und Nicht-Gläubige gibt, prägt ihr sich entfaltendes Weltbild. Religiöses Lernen heute heißt: Identität bildet sich in Pluralität. Und das ist keine Gefahr oder Schwächung, sondern Chance.
Schon von klein auf stellen Kinder Fragen, die zu klären versuchen, was wirklich und was möglich ist. Diese Frag-Würdigkeit, aber auch die Klärungsversuche begleiten Menschen ein Leben lang. Die Suche nach Antworten ist dabei zunächst eingebettet in jene Tradition, in die man hineingeboren oder hineinerzogen wird. Von früh auf werden aber auch andere Lebensentwürfe und Traditionen bedeutsam, denen Kinder in ihrem Umfeld begegnen, sei es in persönlicher Erfahrung, sei es in medialer Vermittlung.
Mit dem Religionspädagogen Friedrich Schweitzer lassen sich fünf große Fragen im Aufwachsen der Kinder festhalten:
- Wer bin ich und wer darf ich sein? – die Frage nach mir selbst.
- Warum musst du sterben? – die Frage nach dem Lebenssinn.
- Wo finde ich Schutz und Geborgenheit? – die Frage nach Gott.
- Warum soll ich andere gerecht behandeln? – die Frage nach dem Grund ethischen Handelns.
- Warum glauben manche Kinder an Allah? – die Frage nach der Religion der anderen.
Die letzte Frage verweist bereits auf den interreligiösen Kontext. Für explizit religiös aufwachsende Kinder lassen sich drei – hier aus Sicht des Christentums formulierte – Fragen ergänzen:
- Was feiern Menschen an Weihnachten und Ostern? – die Frage nach der feierlichen Gestaltung des Glaubens.
- Warum werden Kinder getauft? – die Frage nach der sakramentalen Praxis.
- Hört mich Gott, wenn ich zu ihm bete? – die Frage nach der Tragfähigkeit von Spiritualität.
So also lässt sich das Religiöse als Grunddimension des Menschen betrachten: Es geht um Wahrnehmung, Empfindung, Ausdruck und Gestaltung von Wirklichkeit in all ihren Facetten sowie um das Erahnen von Möglichkeiten, die unsere Erfahrungswelt übersteigen und so Raum geben für Sehnsucht, Hoffnung und Trost.
Interreligiöse Dimensionen
Für die meisten Heranwachsenden ist es schon von früh auf ganz selbstverständlich, dass es mehrere Religionen und Weltanschauungen gibt. Auch in kirchlichen Kindertageseinrichtungen spiegelt sich die multikulturelle Gesellschaft. Was dort beginnt, setzt sich in den Schulen fort. Das „bunte Gesicht unserer Schulen“ – so ein bekannter Grundtopos der Schulpädagogik – ist nicht nur im Blick auf die Herkunftsländer und Abstammungen der Schülerinnen und Schüler längst Realität, sondern auch hinsichtlich von deren Konfessionen, Religionen oder religionslosen Weltbildern. Diese Situation erfordert aber eine neue Zielperspektive des Lernens: Pluralitätsfähigkeit. Was ist darunter zu verstehen?
In ihrer 2005 erschienenen Programmschrift Der Religionsunterricht vor neuen Herausforderungen schreiben die deutschen Bischöfe sehr realistisch: „Die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen ist durch das Faktum der religiösen Pluralität gekennzeichnet“. Pluralitätsfähigkeit, also eine Ausbildung der eigenen Identität in und durch weltanschauliche Vielheit, wird damit zu einer zentralen Grundkompetenz, über die jeder Mensch verfügen muss.
Die Konsequenz: Kinder und Jugendliche müssen in zunehmender Komplexität lernen,
- mit der gegebenen Pluralität so umzugehen, dass sie sich angstfrei im Feld vielfältiger Wirklichkeitsdeutungen bewegen können;
- Pluralität nicht als Bedrohung zu empfinden, sondern erstens schlicht als Gegebenheit, zweitens jedoch als Chance zur eigenen Entfaltung;
- Situationen aushalten zu können, die mehrdeutig sind und bleiben, also Ambiguitätstoleranz entwickeln;
- im Kontext von Pluralität dennoch eine eigene Identität aufzubauen und nach innen wie außen zu behaupten.
Dazu sind in altersgemäßer Abstufung Lernprozesse nötig,
- in denen die Muster zur Deutung von Wirklichkeit der eigenen Tradition erlernt, aber durch die zentralen Deutemuster anderer Traditionen und Religionen ergänzt werden;
- die dabei helfen, die jeweiligen Argumentationsstile und -verfahren zu erkennen, zu analysieren und zu vergleichen;
- in denen die Fähigkeit zum Austausch über eigene und fremde Religionen kommunikativ eingeübt und vertieft wird;
- bei denen es darum geht, in Konfliktfragen Übereinkunft zu erzielen, gleichzeitig aber auch aushalten zu können, dass man oft ohne derartige Übereinkunft leben muss;
- die dazu hinführen, die Perspektiven der anderen einzunehmen, um auch von ihnen aus argumentieren zu können;
- die die Einsicht reifen lassen, dass anstehende Probleme im privaten wie gesellschaftlichen Kontext durch die Angebote und Lösungsstrategien mehrerer Traditionen beantwortet und gegebenenfalls gelöst werden können.
Gewiss: Das sind steil formulierte Zielvorgaben. Im Blick auf Kinder kann es vor allem um Vorbereitungen auf diese grundsätzlichen Lernaufgaben gehen, um ein im Alltag verankertes bewusstes Erleben von Religion in ihren pluralen Ausformungen sowie um ein gezieltes Beobachten und anfanghaftes Verstehen.
Lernwege
Wie lassen sich diese Ziele erreichen? Sicherlich ist das gemeinsame Leben im Alltag, sind Begegnung und Austausch die Grundlagen von gegenseitigem Verstehen. Ein weiterer von vielen, ein medial ermöglichter Weg sei aber abschließend benannt: Seit wenigen Jahren liegen im deutschen Sprachraum kinder- und jugendgemäße Ausgaben der Grundschriften von Judentum, Christentum und Islam vor. Der Vergleich von Kindertora, Kinderbibel und Kinderkoran ermöglicht spannende Einblicke: in Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Sie dienen dem Aufbau einer konfessionellen Identität, gewonnen aber nicht auf Kosten anderer Religionen, sondern in behutsamer Profilierung und Respekt vor den Anderen. Über diese Medien ist ein interreligiöser Dialog auch schon für Kinder und Jugendliche möglich.
Friedrich Schweitzer: Das Recht des Kindes auf Religion. Gütersloh 2000.
Der Religionsunterricht vor neuen Herausforderungen, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2005.
Hanna Liss/Bruno E. Landthaler: Erzähl es deinen Kindern. Die Torah in fünf Bänden, Berlin 2016.
Georg Langenhorst/Tobias Krejtschi: Kinderbibel. Die beste Geschichte aller Zeiten, Stuttgart 2019.
Lamya Kaddor/Rabeya Müller: Der Koran für Kinder und Erwachsene, München 2008.
Hamideh Mohagheghi/Dietrich Steinwede: Was der Koran uns sagt. Für Kinder in einfacher Sprache, München 2010.
Georg Langenhorst/Elisabeth Naurath (Hg.): Kindertora – Kinderbibel - Kinderkoran. Neue Chancen für (inter-)religiöses Lernen, Freiburg 2017.