Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: Januar-Februar 2022

Schwerpunkt

Gemischte Gefühle

Seit der Wiedervereinigung Deutschlands verfolgen wir wohnbaupolitisch eine klare Strategie: Der Staat hält sich zurück und versucht Verteilungsgerechtigkeit auf dem versorgungsrelevanten Feld des Wohnens über marktwirtschaftlich organisierte Prozesse zu erzielen. So wurden beginnend mit den 1990er Jahren eine größere Anzahl von ehemals gemeinnützigen Wohnungsunternehmen – insbesondere aus dem Besitz des Bundes, der Länder und Kommunen – an deutsche und internationale Finanzinvestoren verkauft, die heute zu großen börsennotierten Konzernen mit Orientierung auf maximale Renditen verschmolzen sind. Die Wohngemeinnützigkeit, also die Wohnraumversorgung breiter Bevölkerungsschichten ohne Renditeerwartung, wurde 1990 in Gänze abgeschafft. Das Ergebnis: Von Bundesweit einst ca. 3,3 Millionen Wohnungen mit Sozialbindung 1990 existieren aktuell noch ca. 1,1 Millionen, Tendenz weiter fallend.

Wohnungslos trotz Vollzeitjob

In München regeln die rechtlichen Rahmenbedingungen des Marktgeschehens, dass die Zahl wohnungsloser Menschen, die von der Landeshauptstadt im Kontext der ordnungsrechtlichen Unterbringung im Sofortunterbringungssystem versorgt werden müssen, in den vergangenen zehn Jahren von unter 2.500 auf mittlerweile ca. 8.200 Personen gestiegen ist, darunter mehr als 1.700 Kinder unter 18 Jahren. Die im Jahr 2019 veröffentlichten, bereits 2017 erhobenen Zahlen wohnungsloser Menschen in Bayern, weisen allein für den Zeitraum 2014 bis 2017 einen Anstieg um annähernd 30 Prozent aus (von knapp 12.000 auf ca. 15.500 Personen). Allein die Steigerungsrate in München lässt darauf schließen, dass die Zahl der betroffenen Menschen in Bayern bis heute auf ca. 18.000 weiter rasant gestiegen ist. Es ist mit dem geflügelten Wort der „sozialen Marktwirtschaft“ nur schwer in Einklang zu bringen, dass in strukturstarken Regionen Menschen teilweise trotz Vollbeschäftigung keinen leistbaren Wohnraum finden und so im Einzelfall gar auf einen Platz in einer Einrichtung der Wohnungsnotfallhilfe angewiesen sind. „Wohnungslos trotz Vollerwerbstätigkeit“ – in den Metropolregionen unserer Republik sind Teile der sogenannten gesellschaftlichen Mitte – Stichwort Niedriglohnsektor und unterbezahlte Berufe – mit einem die Existenz bedrohenden Armutsrisiko konfrontiert.

Es ist zu bedauern, dass dieses brennende Thema von der bisherigen Bundesregierung mit dem Wohngipfel 2018 lediglich öffentlichkeitswirksam genutzt wurde – nennenswerte, substanzielle gesetzliche Veränderungen für die Schaffung von günstigem Wohnraum wurden weder in der letzten, noch in den Legislaturen zuvor geschaffen.

Eine kurze Analyse des parteiübergreifend und zu jeder Zeit gerühmten Instrumentes „Wohngeld“ führt uns zu den politisch verantwortlichen Akteuren, die sich in Talkshows stets in Sorge über die steigenden Sozialausgaben des Bundeshaushaltes zeigen. Dass es aber in der Regel genau diese Akteure sind, die stets eine Erhöhung dieser sogenannten „Subjektförderung“ fordern, sich also für den Ausgleich steigender Mietpreise durch die Erhöhung von Wohngeld, der Kosten der Unterkunft oder der Grundsicherung einsetzen, entfaltet auf den ersten Blick eine gewisse Komik – doch auf den zweiten kann man die harte Vertretung von Wirtschaftsinteressen klar erkennen: Genau genommen subventionieren alle Steuerzahlerinnen und Steuerzahler einen völlig aus dem Ruder gelaufenen Mietwohnungsmarkt mit jährlich 18 Milliarden Euro.

Ob man einen „Markt“ – der vom Steuerzahler an sich mit einer exorbitanten Summe subventioniert werden muss, weil sich Teile der eigentlichen Marktteilnehmerinnen- und teilnehmer die aufgerufenen Preise überhaupt nicht mehr leisten können – einen Markt nennen sollte, muss an dieser Stelle eine philosophische Frage bleiben. Es wäre jedenfalls hilfreich, sauber einzuordnen, dass diese im Bundeshaushalt als Sozialabgaben „getarnten“ Steuermittel eigentlich eine indirekte Wirtschaftsförderung privater Wohnbauunternehmen sowie deren Gewinne darstellen.

Eine längst vergangene Ära?

Nachdem es überspitzt formuliert unsere Bundeskanzlerin a.D. Angela. Merkel also geschafft hat, mit ihrer Wirtschafts-, Finanz- und Wohnbaupolitik das 20. Jahrhundert um 16 Jahre zu verlängern, scheint die FDP nun Willens zu sein, in der neuen Koalition in ihre Fußstapfen zu stolpern – die beiden anderen Koalitionäre bleiben seltsam blass. Es ist neben weiteren namhaften Wirtschaftswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern immerhin der ehemalige Chefökonom der Weltbank und Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph E. Stieglitz, der überraschend scharf davor warnt, die FDP huldige mit ihrem wirtschaftspolitischen Ansatz bezüglich Schuldenbremse und Europa konservativen Klischees einer längst vergangenen Ära. Im Ignorieren der ökonomischen Erkenntnisse der vergangenen Jahre sowie der damit verbundenen Verweigerung der Weiterentwicklung der Schuldenbremse werden zur Ermöglichung der Finanzierung überfälliger Investitionen, unter anderem für eine substanzielle Bautätigkeit des Bundes, der Länder und Kommunen, allerlei haushalterische Verrenkungen notwendig sein. Der Bundesminister der Finanzen scheint den Versuch zu wagen, die Herausforderungen der Zukunft mit den ökonomischen Glaubenssätzen der Vergangenheit bewältigen zu wollen.

So bleibt die Aussicht auf eine Wende am Mietwohnungsmarkt vorerst trotz des im Koalitionsvertrag angekündigten Bauzieles von 400.000 Wohneinheiten/Jahr ziemlich vernebelt: Ziele bauen keine Wohnungen.

Der Deutsche Städtetag begrüßt die angekündigte Novellierung des Baugesetzes, die effizientere Ausgestaltung von bestimmten Instrumenten, die Digitalisierung und Verkürzung der Planverfahren, aber auch die Absenkung der Kappungsgrenze im Kontext legaler Mietsteigerungen in angespannten Mietmärkten. Kritisiert wird hingegen zu Recht deutlich, dass die wirklich wirksame Stellenschraube, nämlich die mietpreistreibende Spekulation mit Grund und Boden, nicht justiert wird. Am Beispiel München lässt sich zeigen, dass 1961 acht Prozent der Baukosten eines Hauses auf die Grundstückskosten fielen. 1970 waren es bereits 16 Prozent. Mittlerweile sind es gar 80 Prozent der Gesamtkosten.

Nun steht im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland nicht nur, dass Eigentum verpflichtet, in der Bayerischen Verfassung steht in Artikel 161 sogar, dass Steigerungen des Bodenwertes, die ohne besonderen Arbeits- oder Kapitalaufwand des Eigentümers entstehen, für die Allgemeinheit nutzbar zu machen sind. Die Erträge aus Bodenwertsteigerungen werden nun auch unter der neuen Regierung überhaupt nicht oder wenn dann nur in geringem Umfang besteuert, sind aber überwiegend nicht auf Leistungen des Grundeigentümers zurückzuführen, sondern vielmehr auf Leistungen des Gemeinwesens durch die das Umfeld aufgewertet wird, beispielsweise durch die Schaffung von Baurecht und Infrastruktur. Eine Reform der Bodenbesteuerung, die eine gemeinwohlorientierte Wohnraumpolitik im Blick hat und zwischen unterschiedlichen regionalen Gegebenheiten differenziert, hätte bewirken können, dass leistungslose Steigerungen des Bodenwertes abgeschöpft und für Aufgaben der kommunalen Daseinsfürsorge genutzt werden können. Es ginge hier nicht um das zum Wohnen oder Erwerb dienende Boden- und Immobilieneigentum breiter Schichten der Bevölkerung, sondern ausschließlich und gezielt um jene Immobilienvermögen, die gewerbsmäßig betrieben und gehandelt werden und vor allem auf die Erzielung von Maximalrenditen aus Bodenwertsteigerungen angelegt sind. Trivial wäre dies allerdings nicht gewesen: Das Finanzsystem in unserem Land baut auf Boden und Immobilien auf – mehr als 50 Prozent der Kredite an Unternehmen und Haushalte sind durch Boden besichert, 80 Prozent des Vermögens von Haushalten ist Immobilienbesitz.

Hoffnung macht hingegen der von Expertinnen und Experten schon seit Jahren geforderte (Wieder)Einstieg in eine neue Wohngemeinnützigkeit, um die Schaffung von günstigem Wohnraum wieder ökonomisch sinn- und reizvoll zu machen. Hier ist grundsätzlich davon auszugehen, dass dem Einsatz öffentlicher Fördermittel – egal ob durch Steuerverzichte, Steuergutschriften oder Zuschüsse und Förderdarlehen – auch ein dementsprechender dauerhafter und nicht nur zeitlich eng begrenzter öffentlicher Förderzweck gegenüberstehen wird. Doch auch eine Bautätigkeit, auch wenn sie nicht renditeorientiert ist, braucht ein Grundstück. Ob nun das Vorhaben der Weiterentwicklung der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BIMA) zu einer Wohnbaugesellschaft und damit verbunden das Einbringen bundeseigener Grundstücke punktgenau in den Ballungszentren die Abhilfe schafft, welche die explodierenden Zahlen wohnungsloser Menschen fordern: Es bleibt, dies als Gesellschaft kritisch zu beobachten.


Verfasst von:

Jörn M. Scheuermann

Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Wohnungsnotfallhilfe München und Oberbayern