Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: Januar-Februar 2022

Schwerpunkt

„Was ich tat? Ich schlief halt.“

Beitragsbild: Eine eingeschworene Truppe (hinten von links): Brigitte Kern, Ruth Krimmer-Reder, Alphonse Karama, Bernhard Rohmann und Vijay Koch-Sharma. Foto: Pat Christ

Gemeinschaft Sant’Egidio holt zwei Heimbewohner in eine neu gegründete WG

Wer würde da nicht down sein. Wenn man immer nur im Zimmer ist. Tags. Nachts. Mutterseelenallein. Ohne Zuwendung. „Ich lag da und um mich herum starben sie wie die Fliegen“, erzählt Bernhard Rohmann von seinen Erfahrungen in einem Pflegeheim während der Corona-Krise. Inzwischen ist der 72-Jährige „frei“. Er lebt in einer kleinen Wohngemeinschaft (WG) der Gemeinschaft Sant’Egidio in Würzburg. Und ist endlich wieder glücklich.

2006 wurde in Deutschland eine bis heute kaum bekannte Charta veröffentlicht: In ihr sind die Rechte pflegebedürftiger Menschen festgeschrieben. In dieser kleinen Verfassung stehen viele tolle Dinge. „Sie haben das Recht, Ihren Alltag so zu gestalten, wie es Ihren Interessen und Fähigkeiten entspricht, und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben“, heißt es da zum Beispiel. Bernhard Rohmann liest diesen Satz. Und lacht ein wenig bitter auf. „Dem einzigen Interesse, dem ich im Heim nachging, war, zu schlafen“, sagt er. Zum Glück sind diese Zeiten vorbei. In seinem WG-Zimmer geht Rohmann seiner Passion nach, wann immer er darauf Lust hat: „Ich arbeite gern am Computer.“

Es genügt nicht, einmal am Tag ein warmes Essen und nachts ein Bett zum Schlafen zu haben. Menschen sehnen sich nach mehr. Gerade auch im Alter. Davon berichtet Bernhard Rohmanns Mitbewohner Vijay Koch-Sharma. „Er lebte im Heim in einem Doppelzimmer“, erzählt Ruth Krimmer-Reder von Sant‘Egidio an Stelle des Seniors, der aufgrund eines Schlaganfalls nicht mehr sprechen kann. Schlimm war für Koch-Sharma, dass es während der Corona-Krise keine Gottesdienste mehr im Heim gab. Der aus Indien stammende Senior ist sehr religiös. Seit er in der WG lebt, kann er an jedem Abend zum Gebet von Sant‘Egidio in die Würzburger Marienkapelle gehen.

Eine kleine Wohngemeinschaft ist bestens geeignet, die Charta der Rechte pflegebedürftiger Menschen mit Leben zu erfüllen – zumal in Zeiten des Pflegenotstands. Ruth Krimmer-Reder und ihre Mitstreiterin Brigitte Kern von Sant’Egidio sind sehr froh, dass sie vor einem Jahr den Mut gehabt hatten, die Senioren-WG zu eröffnen. Damit betraten sie Neuland: Solche Einrichtungen sind im Grund nicht vorgesehen. Die WG hat denn auch nicht den Status einer Pflegeeinrichtung. Was letztlich gut ist, sonst würde kräftig hineinreguliert. Es gibt auch keine angestellten Pflegekräfte. Nur eine Haushaltshilfe.

Freunde statt Kunden

Das Ideal „Freundschaft“ zieht sich als roter Faden durch die gesamte Arbeit von Sant’Egidio. Allein dies erzeugt eine komplett andere Atmosphäre. Große Heimeinrichtungen bezeichnen diejenigen, die sich dort pflegen lassen, heute als „Kunden“. Ein irritierender Begriff. Vijay Koch-Sharma und Bernhard Rohmann hingegen sind echte Freunde der Mitglieder von Sant’Egidio. Zu diesen Mitgliedern gehört auch Alphonse Karama. Der 43-Jährige stammt aus Ruanda. Nach Würzburg kam er, um zu promovieren. Auch Alphonse Karama lebt in der WG. Wo er sich, wenn er nicht an der Uni tätig ist, um seine Freunde Vijay Koch-Sharma und Bernhard Rohmann kümmert.

Wegen eines Schlaganfalls kann Vijay Koch-Sharma nicht mehr sprechen. Ruth Krimmer-Reder von Sant‘Egidio hat gelernt, sich dennoch mit ihm zu verständigen. Foto: Pat Christ

In einer WG können die Meinungen schon mal heftig aufeinanderprallen. Und so ist das auch in der Wohngemeinschaft von Sant’Egidio. Es kommt zwar selten vor. Aber selbstverständlich ist nicht immer alles eitel Sonnenschein. Das wäre unnatürlich. So unnatürlich war es im Heim. Da gab es kaum eine Gelegenheit, mal die eigene Meinung zu äußern. Da begegnete man überhaupt nur wenigen Menschen, erzählt Bernhard Rohmann. Der 72-Jährige war fast immer allein in seinem Zimmer. Die Bewohner um ihn herum waren zu krank, als dass man mit ihnen hätte reden, geschweige denn diskutieren können.

Für die meisten älteren Menschen ist es schlimm, die gewohnte Umgebung zu verlassen und in ein Heim zu ziehen. Denn das heißt zwangsläufig, sich in den Rhythmus einer fremden Struktur einzufügen. Man kann nicht mehr so lange schlafen, wie man möchte. Muss anders essen. Hierzulande führt bei schwererer Pflegebedürftigkeit daran jedoch fast kein Weg vorbei. In seiner Heimat, erzählt Alphonse Karama, kennt man das nicht: „Es gibt bei uns keine Altenheime.“ Sind ältere Leute auf Hilfe angewiesen, ziehen sie zu ihren Kindern. Wo sie die Unterstützung erhalten, die sie benötigen. Wobei sie ansonsten ihr gewohntes Leben weiterführen. Eingebettet in eine Gemeinschaft.

Noch nicht gefördert

Ruth Krimmer-Reder und Brigitte Kern von Sant’Egidio sind mit etwa 300 Männern und Frauen in Kontakt, die in einem Heim leben. Am liebsten würden die beiden Würzburgerinnen alle diese Senioren, die ihnen ans Herz gewachsen sind, aus der jeweiligen Einrichtung herausholen. Aber das geht natürlich nicht. „Mit unserer WG ist ein Anfang gemacht“, sagt Brigitte Kern. Der soll anderen Organisationen Mut machen, ebenfalls kleine Wohngemeinschaften zu gründen. Wobei es im Moment noch eine ungelöste Frage gibt: Wer zahlt für die Zugehfrau, die vier Stunden am Tag kommt? Ein Jahr nach der WG-Gründung gibt es noch immer keine Fördermittelzusage vom Bezirk.

Hierin liegt das Hauptproblem für Akteure, die sich über Alternativen zu Alten- und Pflegeheimen Gedanken machen: Kleine WGs für Pflegebedürftige sind in der Förderstruktur nicht vorgesehen. Gefördert wird ambulante Pflege zu Hause. Oder es fließen Gelder in die Versorgung im Heim. Dass dies so ist, wirkt sich wiederum auf die Senioren aus, stellte Brigitte Kern fest: „Die wenigsten Heimbewohner äußern den Wunsch, anders leben zu wollen.“ Das verwundert allerdings nur auf den ersten Blick: Wie kann man sich etwas wünschen, was es nicht gibt! Bisher gab es zumindest in der Altenpflege nichts, was der WG von Sant’Egidio ähneln würde. Das gibt es allenfalls für Menschen mit Handicap. In der Behindertenarbeit sind kleine Wohngruppen seit Jahren schon etabliert.

Auf welche Weise kann man es erreichen, dass Menschen im Alter eigenständig, selbstbestimmt und würdevoll leben können? Auf so vielen Tagungen und bei so vielen Vorträgen wurde diese Frage schon erörtert – ohne dass bisher etwas Wesentliches geschehen wäre. Im Grund ist die Antwort einfach. Sant’Egidio in Würzburg hat sie gegeben. Nach einem Jahr ist deutlich: Die Sache funktioniert. Obwohl Bernhard Rohmann und Vijay Koch-Sharma schwer krank sind, kommen sie in der WG wunderbar zurecht. Natürlich müssen sie etwas aktiver sein als im Heim. Wo ihnen alles abgenommen wurde. Doch genau dies hält die beiden fit.

Klar ist, dass heute oft nicht mehr innerhalb der Familie gepflegt werden kann. Kinder pflegebedürftiger Eltern leben hierzulande nun einmal völlig anders als in Ruanda. Die allermeisten müssen – oder wollen auch – einem Beruf nachgehen, der eine Pflege Zuhause nicht möglich macht. Von daher führt kein Weg daran vorbei, Externe in die Pflege einzubinden. Das ist auch dann nicht schlimm, wenn die Selbstbestimmung gewahrt bleibt. Und wenn die alten Menschen weiterhin als Persönlichkeiten wahrgenommen werden. In der WG von Sant‘Egidio geschieht eben dies.


Verfasst von:

Pat Christ

Freie Autorin