Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: März-April 2022

Schwerpunkt

Aus der Gesellschaft gekippt

Bei der Telefonseelsorge und im Gesprächsladen finden einsame Menschen ein offenes Ohr

Wenn von einem Tag an alles quergeht, wenn sich die Sorgen und Probleme häufen, braucht es dringend jemanden, bei dem man mal sein Herz ausschütten kann. Immer mehr Menschen haben jedoch niemanden, dem sie sich anvertrauen können. Davon wissen die 100 Freiwilligen der Würzburger Telefonseelsorge zu berichten. „Im Schnitt klingelt das Telefon derzeit mehr als 35 Mal am Tag“, sagt Einrichtungsleiterin Ruth Belzner. Etwa in jedem vierten Fall wird Einsamkeit thematisiert.

Wer könnte sich in diesen Zeiten schon pudelwohl fühlen? Die meisten Menschen wünschen sich nur eines: Dass der „Corona-Spuk“ endlich vorbei ist. Allerdings gibt es Personen, die es in den vergangenen zwei Jahren ganz besonders gebeutelt hat. Dazu zählen Männer und Frauen mit seelischen Erkrankungen. Durch die Lockdowns haben sie plötzlich ihr komplettes Unterstützungssystem verloren. Das war drastisch gewesen. Sind doch psychosoziale Stellen für sie oft die einzige Möglichkeit, andere Menschen zu treffen. Mit einem Mal gab es fast keine Anlaufstellen mehr. Bis auf die Telefonseelsorge. Die war immer da.

Inwieweit die Corona-Maßnahmen sinnvoll waren, wird erst die Retrospektive erkennen lassen. Für Ruth Belzner allerdings ist jetzt schon eines klar: Wie mit Teenagern verfahren wurde, darf sich nicht wiederholen. „Einige Jugendliche hat man völlig dysfunktionalen Familien überlassen“, sagt sie. Nie vergessen wird sie den Anruf einer jungen Frau, deren Eltern sich ihr gegenüber emotionslos und zum Teil gewalttätig verhielten. Als die Mutter wieder einmal heftig zugeschlagen hatte, rief das Mädchen die Telefonseelsorge an. Auch sie war einsam. Es gab weder eine Nachbarin noch eine Freundin, zu der sie hätte gehen können.

Nicht wenige Anrufer haben sich schon des Öfteren an die Telefonseelsorge gewandt. Manche tun dies jede Woche. Einige gar täglich. Ruth Belzners Kollege Joachim Schroeter weiß von einem solchen Mann zu berichten. Der 52-Jährige lebte bei seiner Mutter, die er bis zum Tod pflegte. Seit sie gestorben ist, wohnt er alleine in dem Haus. Er ist seelisch krank. Und kennt niemanden, bei dem er hin und wieder sein Herz erleichtern könnte. Täglich die Telefonseelsorge anzurufen, ist legitim. Doch keine Lösung. Nun zeichnet sich womöglich eine Lösung ab, so Schroeter: „Der Anrufer scheint bereit zu sein, ins Betreute Wohnen zu ziehen.“

Einsam sein macht krank

Einsamkeit kann dazu führen, dass man unter Schlafstörungen leidet. Dass man Schmerzen stark spürt. Oder keinen Appetit mehr hat. Viele Anrufer erzählen hiervon, sagt Ruth Belzner: „Der körperliche Zustand ist bei jedem Fünften Gesprächsthema.“ Einsamkeit macht nach ihren Worten deshalb krank, weil das Gefühl von Alleinsein inneren Stress erzeugt. Was mit der Ausschüttung von Adrenalin und Cortisol verbunden ist. Wer einsam ist, konzentriert sich außerdem stark auf sich selbst. Darum werden Schmerzen häufig intensiver wahrgenommen.

Telefonseelsorger würden nie sagen, dass eine Aufregung gar nicht nötig ist. Sie versuchen nicht, das, was Anruferinnen und Anrufer wahrnehmen, zu relativieren. Bei der Telefonseelsorge darf man sagen, was man empfindet und was man denkt. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Meinung am anderen Ende der Leitung geteilt werden muss. „Man darf Anrufern durchaus auch mal widersprechen“, sagt Ruth Belzner. Allerdings würde sie dies nie ungebeten tun. Vielmehr fragt sie in einem solchen Fall: „Darf ich Ihnen sagen, was ich dazu denke?“ Und gibt, wird dies bejaht, Impulse.

Es ist nicht gut, zu Hause zu sitzen und Trübsal zu blasen. Das ist vor allem deshalb nicht gut, weil man dann immerzu im eigenen Saft schmort. In den Gesprächen mit den Telefonseelsorgern werden einsame Anrufer, so es sich ergibt, sacht darauf gestoßen, dass ihre Situation nicht unbedingt ein unabwendbares Schicksal darstellt. Oder dass sie nicht allein deshalb einsam sind, weil das Umfeld so schlecht ist.

Kein echtes Interesse

Einsam zu sein, ist mitnichten schön. Bei den meisten Anruferinnen und Anrufern hören die Telefonseelsorger denn auch den Wunsch heraus, diesem Zustand zu entkommen. Allerdings haben die Betroffenen keine Idee, wie sie dies anstellen könnten. Für Ruth Belzner lautet in puncto Einsamkeit eine Kernwahrheit: „Interessant ist, wer sich interessiert.“ Männer und Frauen, die sich für nichts interessieren, die kein Hobby und auch kein echtes Interesse daran haben, andere Menschen tiefer kennen zu lernen, bräuchten sich eigentlich nicht über ihren Zustand zu wundern. Wären sie denn gern ihr eigener Freund?

Es müsste aber auch gesellschaftlich ein Prozess des Umdenkens einsetzen, wünscht sich die Theologin. Letztlich kommt es nicht von ungefähr, dass viele Leute denken, ihre Erfahrungen seien nichts wert. Und deshalb verstummen. In unserer Gesellschaft wird Partizipation nicht allzu großgeschrieben. Im Kampf gegen die inzwischen fast epidemische Einsamkeit könnten Bürgerräte laut der Leiterin der Telefonseelsorge ein kleiner Puzzlestein sein. Dabei werden Bürgerinnen und Bürger im Zufallsprinzip ausgewählt und eingeladen, sich zu einem bestimmten Thema mit anderen zusammen Gedanken zu machen.

Im Gesprächsladen an der Augustinerkirche in Würzburg finden gerade auch einsame Menschen jemanden zum Reden.

Reden. Wie liegen die Dinge? Was steht an? Wie geht es? Es ist schön, solche Fragen gestellt zu bekommen. Dorothea Maiwald-Martin kennt viele Menschen, bei denen sich nie jemand nach dem Wohlergehen erkundigt. Die Theologin arbeitet im Gesprächsladen bei der Würzburger Augustinerkirche. Auch hierhin können sich Einsame wenden. Und sie tun es. „Es gibt Leute, die sagen, dass ich seit mehreren Wochen der erste Mensch bin, mit dem sie persönlich sprechen“, berichtet sie. Nicht selten handelt es sich um Männer und Frauen, die innerhalb ihrer Familie „übrig geblieben“ sind. Der Gatte verstarb. Kinder gibt es nicht. Oder nicht mehr.

„Es geht rasend schnell“

Dorothea Maiwald-Martin vom Würzburger Gesprächsladen hat es nicht selten mit Menschen zu tun, die sehr einsam sind.

Manche Gespräche wird Dorothea Maiwald-Martin ihr Leben lang nicht vergessen. Neulich zum Beispiel war eine Frau bei ihr, die psychisch erkrankte und deshalb erwerbsunfähig wurde. Früher war sie viel gereist. Sie liebte es, ins Theater zu gehen. All das ist nun nicht mehr möglich. Denn die Krankheit und die Erwerbsunfähigkeit machten sie arm. „Es hat sie aus der Gesellschaft gekippt, und zwar rasend schnell“, so die stellvertretende Gesprächsladen-Leiterin.

An den Gesprächsladen darf sich nicht nur wenden, wer Kirchenmitglied ist. Alle sind willkommen. Es suchen denn auch viele Menschen, die keiner Kirche angehören, die Einrichtung auf. Aber eben auch Kirchenmitglieder. Und zwar auch einsame. Das verwundert: Wie kann man einsam sein, wenn man einer Gemeinde angehört? „Das liegt daran, dass Kirchenmitglieder oft nur noch selten liturgische Angebote wahrnehmen“, sagt Dorothea Maiwald-Martin. An Pfarrgemeinderäte appelliert sie vor diesem Hintergrund, sich attraktive Angebote zu überlegen, die sich nicht zuletzt an Menschen richten, die einsam sind.

Fotos: Pat Christ

Titelfoto: Ruth Belzner und Joachim Schroeter von der Würzburger Telefonseelsorge haben es oft mit einsamen Anrufern zu tun.


Verfasst von:

Pat Christ

Freie Autorin