Ausgabe: März-April 2022
SchwerpunktDer einsame Jesus
Aufbrüche und Krisen seines Lebens
Jesus kennt die Einsamkeit. Teils sucht er sie, teils erleidet er sie. Jesus hat keine Angst vor Menschen. Er lässt sich von ihnen berühren, er ist auf der Suche nach ihnen; er agiert in voller Öffentlichkeit inmitten großer Scharen. Aber er kennt auch die stillen Momente, die Rückzüge, die innere Einkehr. Er kennt den Verrat, das Unverständnis derer, die ihm nahestehen, und die Heuchelei, seinen Namen zu missbrauchen, um eigene Machtgelüste zu befriedigen. Nicht zuletzt kennt er die Gottesfinsternis.
Die Einsamkeit, die Jesus sucht, und die Einsamkeit, die er durchleidet, zeigen, dass Jesus ganz und gar Mensch ist – als Sohn Gottes. Er nimmt ohne jeden Abstrich am Leben der Menschen teil, an ihrer Freude und Hoffnung, aber auch an ihrer Not und Trauer: Er erfährt sie am eigenen Leib. Er verbindet das ganze Leben der Menschen, das er teilt, mit Gott. Auch in der Einsamkeit kann deutlich werden, wie unendlich nahe Gott ist; aber in der Einsamkeit kann auch deutlich werden, wie sehr Gott vermisst wird. Jesus sucht die Einsamkeit, um Gottes Nähe zu spüren. Aber er erleidet sie auch, weil es der verborgene Gott ist, der den Menschen nahekommt. Diese Einsamkeit ist seine Erfahrung, sie prägt seine Botschaft, sie ist Teil seines Lebens.
Deshalb ist der einsame Jesus ein Vorbild für Menschen, die selbst einsam sind – sowohl dann, wenn sie die Einsamkeit gewählt haben, als auch dann, wenn sie die Einsamkeit nicht gewählt haben und sie erleiden. Das eine kann gegen das andere weder aufgerechnet noch ausgespielt werden. Beides gehört zum menschlichen Leben – und deshalb gehört es mit Jesus mitten hinein in den Glauben, die Liebe und die Hoffnung.
Der einsame Jesus ist aber auch ein Vorbild für Menschen, die nicht einsam sind, sondern sich als Teil einer glücklichen Familie, eines großen Freundeskreises, eines starken Teams wissen. Denn er öffnet die Augen für die Einsamen; und er zeigt, dass es noch andere Dimensionen geglückten Menschseins gibt als Gemeinschaft mit anderen Menschen, Anerkennung durch sie und als Aktionen mit ihnen.
Jesus ist Vorbild, aber nicht nur. Er hilft, die Einsamkeit zu suchen, wenn es nottut, und sie zu bestehen, wenn sie wehtut. Er öffnet die dunkelsten Momente des Lebens für die Lichtblicke der Gottesgnade und die hellen Stunden der Lebensfreude für die Verbindung mit denen, die im Schatten leben.
Die Wüste – als Paradies
Im Markus-, im Matthäus- und im Lukasevangelium sucht Jesus direkt nach seiner Taufe, mit der seine öffentliche Verkündigung beginnt, den Weg in die Einsamkeit. Er zieht sich vierzig Tage zurück in die Wüste. Es ist Gottes Geist, der ihn führt. Die vierzig Tage erinnern an Mose, der gleichfalls vierzig Tage in der Einsamkeit gefastet hat, um sich auf den Empfang der Gottesoffenbarung vorzubereiten.
Weder Mose noch Jesus sind in die Einsamkeit geflohen. Sie haben sie gesucht, auch wenn sie von Gott auf diesen Weg geführt worden sind. Die freiwillige Einsamkeit schafft Raum für Stille, Raum für Gott, Raum für einen neuen Blick auf die Welt. Aber in der Einsamkeit kommen auch alle Kräfte hoch, die zerstörerisch sind. Beides gehört zusammen, wenn die Einsamkeit eine dichte, eine menschliche, aber auch eine göttliche Erfahrung werden soll.
In den biblischen Texten steht für diese Macht des Bösen die archetypische Figur des Teufels. Es gehört zur abgründigen Erfahrung vieler Heiliger, dass sie am meisten angefochten werden, wenn sie sich am intensivsten auf Gott konzentrieren wollen. Der Teufel steht in der Sprachwelt der Bibel nicht für eine Person – er ist Unperson. Er will alles verwirren und zerstören. Desto wichtiger ist es, ihn zu besiegen.
Der Rückzug Jesu in die Einsamkeit der Wüste dient in den Evangelien dem Sieg über den Feind Gottes und der Menschen. Tatsächlich ist Jesus in Versuchung geführt worden, die Liebe auszunutzen, die Gott ihm schenkt, um sich den Weg des Hungers und der Armut, der Ohnmacht und Verachtung zu ersparen. Aber er hat diese Versuchung bestanden. Deshalb gehört die Einsamkeit Jesu mitten ins Evangelium.
Markus hat die Versuchung mit dem Bild eines neuen Paradieses verbunden, zu dem Jesus die Wüste macht: Er „lebt mit den wilden Tieren“. Viele Heiligenlegenden halten den Einklang zwischen Natur und Gnade fest, der auch die Flora und Fauna erfasst: ein Zeichen der Hoffnung mitten im Elend. Diese Friedenszone verbindet die Erde mit dem Himmel. Markus und Matthäus erzählen, dass Engel, Gottes Boten, Jesus gedient haben. Das Motiv lässt sich nicht rationalisieren und historisieren. Aber es berührt viele, die in der Einsamkeit, die sie gesucht haben oder die ihnen auferlegt worden ist, Glück und Gott erfahren haben: eine Gnade, die sie befreit.
Die neutestamentlichen Evangelien erzählen immer wieder, dass Jesus sich während seines Wirkens in die Einsamkeit zurückgezogen hat, um zu beten. Er sammelt dort neue Kräfte. Er wendet sich in der Einsamkeit nicht von den Menschen ab, sondern wendet sich ihnen wieder zu. Der Rückzug dient dem Aufbruch; der Aufbruch führt nicht zum Aktionismus, sondern zur Begegnung mit Gott, mit Anderen, mit dem eigenen Ich, die es wahrzunehmen, auszuhalten, zu gestalten gilt – bis es weitergeht, zur nächsten Begegnung.
Golgotha – als Allerheiligstes
Das einzige Gebet in der Einsamkeit, von dem in den Evangelien erzählt wird, ist das Gebet am Ölberg, im Garten Gethsemane. Jesus will aber unmittelbar vor seinem Leiden, auf das es nun zugeht, nicht allein sein; er hofft darauf, dass seine Jünger mit ihm zusammen wachen und beten. Doch sie lassen ihn im Stich. Ihr Geist ist willig, aber ihr Fleisch ist schwach. Jesus vereinsamt: Er kann sich nur noch an Gott halten, seinen Vater, den er inständig um Verschonung bittet, auch wenn er sagt, dass nicht sein, sondern Gottes Wille geschehe.
Diese Spannung spitzt sich in der gesamten Passionsgeschichte zu. Am Ende ist Jesus, von Judas verraten und von Petrus verleugnet, allein. Er wird verhöhnt und gefoltert; er wird zu Unrecht verurteilt; er wird auf den Kreuzweg geführt und an den Pfahl gehängt. Simon von Cyrene wird erpresst, ihm das Kreuz zu tragen. Die Frauen aus Galiläa stehen, ein wenig vom Kreuz entfernt, um zu beobachten, was geschieht; nach Lukas sind auch die „Bekannten“ Jesu dabei. Aber er muss ganz allein sterben; niemand kann ihm zur Hilfe kommen.
Nach allen Evangelien verdunkelt sich der Himmel. Nach Markus und Matthäus schreit Jesus seine Gottverlassenheit heraus. Er täuscht sich nicht, weil Gott ihn tatsächlich „hingegeben“ hat, wie es im urchristlichen Glaubensbekenntnis heißt. Er leidet an Gott, wie er an den Menschen leidet. Aber er hält an Gott fest: „Mein Gott – warum hast du mich verlassen?“
Deshalb wird die Gottesfinsternis der Einsamkeit im Licht des Gottesglaubens sichtbar. Lukas geht noch weiter und erzählt, dass Jesus vom Kreuz als Versöhner wirkt, indem er seinen Henkern vergibt und dem Räuber zu seiner Rechten, der seine Schandtaten bereut, zusagt, „heute noch“ mit ihm im Paradies zu sein. So wird das Kreuz, das Schandmal äußerster Profanität, zum Allerheiligsten: zur dichtesten Form der Gegenwart Gottes – in der Verborgenheit.
Die Einsamkeit ungerechten Leidens, ob sie religiös erfahren wird oder nicht, kann für Menschen das Ende der Welt und ihres eigenen Lebens bedeuten. Nicht aber, so die Hoffnung wider alle Hoffnung, für Gott: Dafür steht der einsame Jesus: vor Gott und den Menschen, mitten im Tod, mitten im Leben.
Titelbild: Veneratio/Adobe stock