Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: März-April 2022

Kommentar

Der Rückzug ins Private

Siegfried Grillmeyer, CPH

Es gibt viele Bezeichnungen für Lebensumstände, in denen Menschen nicht in Interaktion zu anderen treten und nicht in dauerhaften Beziehungen eingebunden sind, sondern vereinzelt und auf sich gestellt ihr Leben gestalten. Wer sich aus eigener Entscheidung auf Zeit aus dem Trubel des Alltags zurückzuzieht oder eine eigene Wohnung nimmt, mag das Allein-Sein als große Bereicherung empfinden. Wer allerdings, ohne es zu wollen, alleine lebt, wird dies als Einsamkeit schmerzlich empfinden und daran leiden. Medizinische Untersuchungen belegen den Wirkungszusammenhang eines Lebens in Einsamkeit mit der Zunahme von Ängsten und Depressionen.

Seit Beginn der Pandemie wurde die Weisheit bestätigt, dass „es nicht gut ist, wenn der Mensch alleine bleibt“ (Genesis 2,18) und damit die gesundheitliche Gefährdung für Körper und Geist durch die Kontaktbeschränkungen deutlich. Was allerdings erst allmählich zu Tage tritt, ist die Gefahr für unsere Demokratie, die damit ebenso einhergeht. Der Soziologe Ray Oldenburg hat bereits in den 1980er Jahren darauf verwiesen, wie wichtig sogenannte „dritte Orte“ für die Demokratie sind. Neben dem ersten Ort des eigenen Zuhauses und dem zweiten Ort der Arbeit bedürfe es derartiger Orte der Begegnung, wie Gemeindezentren und Kultureinrichtungen, aber ebenso das Kaffeehaus und die Eckkneipe. Sie sind als (nicht rein) kommerzialisierte Räume die „Herzkammern“ und „Keimzellen“ der Demokratie. Denn dort lernen wir, miteinander umzugehen, den anderen zu respektieren und auch auszuhalten mit seiner anderen Meinung und Lebensweise. Diese Begegnungsräume schaffen Verständigung und damit auch Aushandlungsprozesse, die eine virtuelle Welt nicht ersetzen kann und die auch nicht nur Wohlfühloasen in der eigenen Blase der Gleichgesinnten darstellen.

Covid19 hat nicht alles verändert: Auch zuvor gab es Ausdünnung und Bedeutungsverlust dieser „dritten Orte“ und viele vermeintliche Interaktionen wurden ins Virtuelle verlegt. Auch vor Jahren haben die anderen Räume, der erste Ort des familiären Zuhauses und der zweite Ort des Arbeitsplatzes, ihre Bindekraft als Lernräume des demokratischen-partnerschaftlichen Miteinanders zunehmend verloren. Und ebenso haben die positiven Seiten eines individualisierten Lebensstils auch ihre Schattenseiten durch Vereinzelung und fehlende soziale Einbindung in identitätsstiftende Gruppen und Gemeinschaften verstärkt. Aber die Corona-Zeit hat wie ein Katalysator gewirkt.

Es wird Zeit, in die Ausgestaltung der dritten Orte zu investieren: als Gemeinschaft, in dem wir sie einladend und attraktiv gestalten und als Individuen, in dem wir sie nutzen, um aus der vermeintlichen Komfortzone des Alleinseins in den Raum der Begegnung zu wechseln, der nicht nur Einsamkeit vorbeugt, sondern auch Demokratie sichert.


Verfasst von:

Siegfried Grillmeyer

Direktor Caritas-Pirckheimer-Haus Nürnberg